Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
Bescheid wusste und er nicht, deshalb versuchte ich, es ihm zu erklären.
Allmählich näherten wir uns unserem Wohnhaus. Als wir nicht mehr weit entfernt waren, sahen wir die Burg, die von ihrem Felsen über der Stadt hinauf in den weißen Himmel ragte. Flaggen wehten auf jedem Turm und jeder Zinne, und sogar aus dieser Entfernung konnte ich den Löwen und die Taube im Familienwappen der Kalitz ’ erkennen. Das ausgewaschene Blau erinnerte mich jedes Mal an die Schule, denn auch dort hingen überall diese Flaggen.
Der Burgfelsen war selbst an den glatten Oberflächen mit Schnee überzogen. Die Kanonen beobachteten uns wie ein Schwarm hungriger Geier. Soldaten marschierten ununterbr oc hen die Straße auf und ab, die im Zickzack zur Burg hinaufführte, und die Bewachung war in den letzten Monaten noch verstärkt worden. König Lucien verlangte mehr Truppen denn je, um die Stadt zu schü t zen.
Es hätte mir gefallen, in so einer Burg zu leben. Früher hatte sie ausgesehen wie ein alter Tempel, den man aus den roten Steinen am Gipfel eines Vulkans geschnitzt hatte. Ich konnte mich erinnern, dass sie morgens immer wie ein orangefarbenes Kohlestück geglüht hatte und jedes Fenster ein derart hell glimmender Funke war, dass man nicht direkt hinsehen konnte. Die Burg war der Teil der Stadt gewesen, den das Sonnenlicht am Morgen z u erst erreichte. Lucien hatte sie mit neuen Wachtürmen und Mauern verstärkt, sodass sie nun wie ein Fremdkö r per in der alten Inselstadt wirkte.
Es hieß, dass man vom höchsten Balkon aus ganz K a litzstad überblicken könne – die Kirche, den Platz, die Königlichen Gärten –, all das ausgebreitet wie auf einer Landkarte; und den Fluss, der sich um die Stadt heru m schlängelte in seinem Verlauf von Norden nach Süden. In westlicher Richtung konnte man angeblich bis zum Hafen der Hoffnung sehen und an klaren Tagen sogar die Silhouette der Heiligen Insel erkennen; zur anderen Seite erstreckte sich die Aussicht bis zu den Östlichen Bergen.
»Es ist also eine gute Sache?«, fragte Stirling nac h denklich.
»Was denn?«
»So eine Revolution.«
»Nun, als Lucien die Macht an sich gerissen hat, g e schah das durch eine Revolution, glaube ich. Und das war eine schlechte Sache.« Ich sah mich um, während ich das sagte. Zum Glück waren keine Soldaten in Sicht. Diese Bemerkung hätte vermutlich als Hochverrat gego l ten.
»Ist der Ausgang von so einer Revolution immer gleich? Ist er immer schlecht?«
»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur über Malonia B e scheid.«
»Wird dabei immer gekämpft?«
»Ich wüsste nicht, wie man sonst in einem Land die Macht ergreifen könnte.«
»Es muss andere Möglichkeiten geben«, fand Stirling.
»Manchmal gibt es keinen anderen Weg als den b e waffneten Konflikt.«
»Es tut mir leid, aber da stimme ich nicht mit dir übe r ein«, sagte er mit Nachdruck.
Ich lachte. »Hör dich nur an – acht Jahre alt und spricht wie ein Anwalt.« Ich war derjenige, der ihm die richtige Formulierung beigebracht hatte. Davor hatte er immer gesagt »da übereinstimme ich nicht«, was mich schließlich zur Weißglut gebracht hatte, weil er es so oft sagte. »Vielleicht wirst du ja ein Anwalt werden«, meinte ich. »Auf jeden Fall streitest du dich gern.«
»Ich glaube nicht, dass ich Anwalt werde.«
»Na schön, was willst du denn werden?«
»Vielleicht Priester. Wie Pater Dunstan. Du brauchst nicht die Augen zu verdrehen. Was ist falsch daran, ein Priester zu sein?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ein Priester verdient nicht viel Geld«, war das Einzige, was mir schließlich einfiel.
Je mehr sich die Wolken verdichteten, desto düsterer wurden die Straßen. Ein Papierfetzen flatterte wie eine Fledermaus die Straße hinunter und landete dann flach an einer Wand. Es war ein Steckbrief. Ich nahm ihn im Vo r beigehen ab und überflog ihn flüchtig, bevor ich ihn wegwarf.
»Was war das?«, fragte Stirling.
»Nur noch so ein gefährlicher Verbrecher«, erwiderte ich. »Irgendein netter, alter Großvater, der offensichtlich ein Mordkomplott gegen König Lucien geschmiedet hat.«
Mein Bruder lachte.
Wir bogen um eine Ecke und waren in der Zit a dellstraße, in der wir wohnten. Es handelte sich um eine der Straßen, die zur Burg hinaufführten, und die Wo h nungen waren wegen der zu jeder Tages- und Nachtzeit passi e renden Soldaten billig zu haben.
»Was ist falsch daran, ein Priester zu sein?«, fragte Stirling noch einmal. »Wenn du nicht willst, dass
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