Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
Manteltasche. Noch wusste ich nicht, was für Kräfte in ihm steckten, und wollte es daher bei mir behalten.
Als ich nach unten ging, um Wasser zu holen, fiel mir der Name des erfundenen Landes wieder ein. Dieses s a genumwobene Land in einer anderen Welt, über das uns Großmutter früher immer Märchengeschichten erzählt hatte. Es hieß gar nicht Engelland.
Sein Name war England.
Auf dem Weg zur Schule dachte ich immer noch über das Buch nach. Woher war die Schrift gekommen? Vie l leicht hätte ich es nicht aufheben sollen. Die Geschichte hatte nichts mit mir zu tun, aber jetzt war ich mögliche r weise in sie verwickelt. Und sie fesselte mich! Ich konnte nicht aufhören, mich zu fragen, ob der Junge der Prinz war, und falls ja, ob er noch immer lebte. Wenn er noch am Leben war, könnte sich die Prophezeiung erfüllen. Aber …
»Leo?« Ich tauchte wieder aus meinen Gedanken auf. Ich war überrascht zu sehen, dass die Straße, die Häuser und der Schnee noch immer da waren. Ich wandte mich zu Stirling um, der neben mir hertrabte. Ich war, vertieft in meine G e danken, ziemlich schnell gelaufen – zu schnell für ihn.
»Was?«, fragte ich und verlangsamte mein Tempo.
»Worüber denkst du nach, Leo?«
Ich schüttelte den Kopf und musste über sein ernstha f tes Gesicht lächeln. »Nichts. Nur über eine Märcheng e schic h te.« Ich zuckte die Achseln. »Eine dieser alten über En g land, aber wahrscheinlich kannst du dich nicht mehr eri n nern.«
»England? Doch, ich erinnere mich daran.«
»An was denn?«, wollte ich wissen.
»England war dieses Land, von dem Großmutter fr ü her oft gesprochen hat. Forscher sind in eine andere Welt gegangen und haben es entdeckt.«
Ich war überrascht. Er konnte nicht älter als drei g e wesen sein, als sie uns diese Geschichten erzählt ha t te. »Und der Prinz ist auch dorthin gegangen«, fuhr Stirling fort. »Der Prinz wurde nach England g e schickt.«
»Prinz Cassius, der irgendwann mal Cassius III. g e worden wäre«, ergänzte ich. »An diese Geschichten eri n nerst du dich auch?«
»Ja, natürlich. Bloß glaube ich nicht, dass es nur G e schichten waren.«
»Wie meinst du das?«
»Ich glaube, dass es das Land wirklich gibt.«
»Wirklich?«, fragte ich. Er nickte. »Wie kann es denn Wirklichkeit sein?«
»Eine Menge Leute glauben, dass es das ist«, behau p tete er. »Ich bin nicht der Einzige.«
»Heutzutage bist du der Einzige, Stirling.«
»Nein, das bin ich nicht«, widersprach er. »Ich habe viel darüber nachgedacht, und ich bin mir sicher, dass es England wirklich gibt.«
Während wir weitergingen, beobachtete ich ihn au f merksam, noch immer verblüfft darüber, dass er sich an diese Dinge erinnern konnte. »Warum?«, fragte ich dann. »Warum bist du dir da sicher?«
Er überlegte einen Moment. »Na ja, der Prinz wurde dorthin geschickt. Und der Prinz war echt.«
»Die meisten denken, dass der Prinz umgebracht wurde«, sagte ich.
»Ich nicht . «
Seine Gewissheit brachte mich erneut zum Lächeln. »Ist das alles?«
»Nein«, sagte er. »In dem Gedicht, das Großmutters Bruder geschrieben hat, steht, dass er dort hingehen wü r de, nicht sterben.«
»Die Prophezeiung, die der große Aldebaran niederg e schrieben hat.« Aldebaran war unser Großonkel, aber das behielten wir für uns. Harald North als Vater zu haben, war schon schlimm genug. »Niemand glaubt heute noch an die alten Prophezeiungen.«
»Aber das sollte man«, fand Sterling. »Und sie ist nicht alt – erst sechzehn Jahre. Außerdem sagen sie mei s tens die Wahrheit.«
»Vielleicht. Was weißt du über Prophezeiungen?«
»Nicht viel. Aber die ganzen echten, von denen ich gehört habe, sind in Erfüllung gegangen. Falls die E r leuchteten, die sie verkünden, wirklich in die Zukunft sehen können, dann müssen sie wahr sein.«
»Na ja, aber vielleicht war das keine echte.«
»Es war eine echte«, beharrte er. »Und das bedeutet, dass es England wirklich gibt.«
»Also von mir aus«, sagte ich. »Es könnte sein, dass es England wirklich gibt.« Aber jetzt, da ich es laut au s sprach, glaubte ich selbst nicht daran.
»Noch mal wegen dieser Prophezeiung …« , setzte mein Bruder an.
»Was ist damit?«
»Ich wollte dir was sagen, aber …« Wir näherten uns bereits den Schultoren, und wir reduzierten unsere G e spräche immer zu einem harmlosen Geplauder, sobald wir diesen Punkt der Straße erreichten. Es war eine stille Übereinkunft, dass mit diesem Punkt die
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