Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
lachte. » Eines Tages wirst du auf einer Bühne tanzen.«
»Ich hoffe, das werde ich, wenn ich fleißig übe«, sagte das Mädchen so ernsthaft, dass seine Großmutter wieder lachen musste. Die Kette mit dem Vogelanhänger hing noch immer um den Hals der Kleinen, und die Farbe i h rer Augen war zu einem strahlenden Blau geworden – dasselbe Blau, das auch der Edelstein in der Mitte des Anhängers aufwies, so als wäre er für das Mädchen g e macht worden.
Der Verkehr floss zügig dahin. Auf der anderen Str a ßenseite standen die Autos dicht an dicht in einer langen Schlange hintereinander. Das Mädchen begann, im Abendlicht einzudösen, und sein Körper schaukelte bei jeder Kurve hin und her. Sandige Muscheln und Kiese l steine klapperten auf dem Armaturenbrett. Die Großmu t ter streckte den Arm aus und berührte die Wange ihrer schlafenden Enkelin.
Plötzlich übertönte lautes Gehupe die Musik. Ein Lastwagen kreuzte schwankend die Straße. Das Mädchen wachte verwirrt auf und fing an, in dem ausscherenden Auto zu schreien. Das Letzte, was es vor der Dunkelheit sah, war seine Großmutter, die sich abmühte, das Len k rad erst in die eine Richtung, dann in die andere zu dr e hen, während neben dem Auto die Lastwagen aufragten und irgendwo in der Nähe Reifen kreischten.
»Es ist alles in Ordnung«, stieß die Großmutter ve r zweifelt hervor.
Das Mädchen verstand nicht, warum sie das sagte. E i nen Augenblick später überschlug sich der Wagen, und alles wurde dunkel.
Das Mädchen weinte während dieser ganzen Nacht in den Armen seiner Mutter. Sie befanden sich in einem kalten, weißen Krankenhaus, vor dessen Pforte die Du n kelheit lauerte. Sie hätten nach Hause gehen können, doch keiner von beiden dachte daran. Das kleine Mä d chen war schon viele Male hier gewesen. Dies war der Ort, an dem es g e boren worden war; ein Jahr später hatte man es drei W o chen lang jeden Tag hierhergetragen, während sein Vater im Sterben lag. Es war schon viele Male hier gewesen, aber dies war das eine Mal, an das sie sich erinnern würde.
Auch der Junge weinte. Er war plötzlich allein in einem merkwürdigen Land, begleitet nur von einem Fremden, der ihn nicht trösten konnte. Er sah zum Abendstern hoch – dem Stern, der immer als erster vor seinem Fenster auf der Burg erstrahlte, aber selbst der Stern war hier ve r kehrt und anders. Er wirkte blass und ausgewaschen an diesem düsteren, orangegrauen Nachthimmel.
»Komm vom Fenster weg«, sagte der Fremde und le g te dem Jungen eine Decke um die Schultern. »Versuch, dich ein weni g a uszuruhen.« Aber der Junge rührte sich nicht. Weder in dieser Nacht, noch in der nächsten, und auch nicht in der übernächsten.
Das Mädchen lag auf seinem Bett und betrachtete diese l ben Sterne. Sie sah sie abends auftauchen und morgens verblassen. Sie hörte die Uhren in der Stadt schlagen und zählte jede Stunde, die verstrich. Aber es gab nichts, was einer von ihnen beiden hätte tun können, um die Zeit z u rückzudrehen.
Hier brach der Eintrag ab. Mit dem aufgeschlagenen Buch auf den Knien blieb ich still sitzen. Das Seltsame war, dass ich diese Geschichte schon mal gelesen hatte, da war ich mir ganz sicher. Und sie war nicht erfunden! Ich war überzeugt, dass sie real war – dass alles wirklich geschehen war.
Es könnte sein, überlegte ich, dass der kleine Junge dieser Prinz ist, der im selben Jahr wie ich geboren wo r den war und den man angeblich in dieses legendäre Land verbannt hatte. Prinz Cassius. Wie hieß dieses Land noch mal? Engelland oder irgendwie so ähnlich. Aber es exi s tierte nicht wirklich. Luciens Truppen hatten in jener Nacht jeden auf der Burg getötet – sie töteten den König, die Königin und den Prinzen. Die königliche Beraterin Talitha war dafür verantwortlich gewesen – sie hatte gr o ße Macht, und es wäre für sie ein Leichtes gewesen, e i nen fünfjährigen Jungen umzubringen. Dies war also bloß eine Geschichte.
Aber was war mit dem Mädchen? Ein paar der Au s drücke in dem Teil über sie verstand ich nicht. Was war ein Auto oder ein Armaturenbrett oder ein Radio? Die Worte klangen fremdländisch. Vi elleicht war sie in e i nem anderen Land. Vielleicht ebenfalls in Engelland. Dann war sie ebenfalls erfunden.
»Leo! Stirling!«, rief meine Großmutter. »Steht rasch auf. Es wird bei dem Schnee länger dauern, zur Schule zu laufen.« Stirling wälzte sich brummelnd zur Seite. Ich verstaute das Buch i n m einer
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