Mantelkinder
das Blatt so, dass er Claudias Foto sehen konnte, und er stöhnte noch einmal auf. Es war dieses hinreißende Mädchen, das er von dem Wasserschaden in Erinnerung hatte. Mit den Korkenzieherlocken und den Grübchen hatte sie sogar ein wenig Ähnlichkeit mit Frauke.
Sechs Jahre alt, so sinnlos gestorben! Was machten die Eltern jetzt durch? Die Zwillinge? Er war nie Vater geworden, hatte einfach keine Kinder gewollt, und deshalb konnte er sich nicht wirklich vorstellen, wie es der Familie ging. Um Trauer und Verzweiflung aufzufangen, brauchte es Psychologen, Seelsorger vielleicht. Seine Hilfe konnte nur darin bestehen, ihnen den bürokratischen Teil möglichst von Hals zu halten, und dazu benötigte er einen kühlen Kopf und behutsame Nüchternheit. Aber wie behielt man das in dieser Situation?
Er spürte Karins Blick und riss sich endlich von dem Foto los. Die Kieselaugen blickten ihn mit ruhigem Ernst an.
Schnell verdrängte er alles, was da auf ihn einzustürzen drohte und schob den Stuhl zurück. „Ich sollte wohl duschen und ins Präsidium fahren.“
„Du solltest was essen!“, widersprach Karin.
Aber Chris schüttelte nur stumm den Kopf.
Rund um das Präsidium war immer noch eine einzige gigantische Baustelle. Mehrere Kräne ragten zwischen halbmontierten Stahlkonstruktionen und Betonsäulen empor. Kettenfahrzeuge rumpelten über das Gelände und ein Presslufthammer in der Nähe machte einen Höllenlärm.
Als Chris über den Parkplatz ging, versuchte er sich daran zu erinnern, was hier gebaut wurde. Einer der Rohbauten wurde sicherlich die Erweiterung des Präsidiums, das sich, kaum zehn Jahre nach seiner Fertigstellung, als viel zu klein erwiesen hatte. Aber was aus den anderen etwas futuristisch anmutenden Gebäudeteilen werden sollte, war im schleierhaft. Platzte etwa die neue Stadtverwaltung auch schon wieder aus den Nähten? Oder das Einkaufszentrum dahinter? Und sollte nicht in der Nähe auch die neue Fachhochschule entstehen? Es gab im Moment so viele ehrgeizige Baupläne in Köln, das er sie einfach nicht mehr auseinanderhalten konnte. Trotz klammer Kassen wurde an jeder Ecke der Stadt gebuddelt. Hoffentlich wurden all die Projekte nicht zur unendlichen Geschichte wie die neue U-Bahn.
Auf halbem Weg stutzte er. Hatte er den Wagen nun abgeschlossen oder nicht? Fluchend machte er kehrt. Nicht, dass er Angst gehabt hätte, jemand würde einen altersschwachen zerbeulten Nissan klauen, aber an seinem Autoradio hing er. Natürlich war der Wagen nicht verriegelt — wie so oft.
„Deine Zerstreutheit bringt dich nochmal ins Grab, Sprenger“, murmelte er, als er das Präsidium endlich betrat. Der Eingangsbereich glich der Empfangshalle eines Hotels. Halogenstrahler in vertäfelten Decken, Sitzgruppen mit kleinen Tischen und Zeitschriften darauf. Zu beiden Seiten der breiten Treppe befanden sich Aufzüge mit matt silberfarbenen Türen. Nur der Geruch nach abgestandenem Kaffee und kaltem Rauch passte nicht zu einem Hotel. Letzteres sollte es eigentlich nicht mehr geben. Aber das Präsidium war wohl das einzige öffentliche Gebäude, wo das Rauchverbot im internen Bereich weitgehend ignoriert wurde.
Als der Polizist vorn in der Loge Chris erkannte, tippte er zur Begrüßung kurz an seine Mütze und winkte ihn durch.
Er verzichtete auf den Aufzug und nahm die Treppe bis in den dritten Stock. An den weißen Wänden hingen Kinderzeichnungen. Wilde Tiere, Sandstrände mit Sonnenschirmen, Osterhasen und Weihnachtsmänner auf Schlitten in Wachsmalkreide oder Filzstift. Chris erinnerte sich dunkel, dass der neue Polizeipräsident wechselnde Ausstellungen zeigen wollte und mit von irgendwem prämierten Kinderbildern angefangen hatte.
Er entdeckte Susanne vor ihrem Büro am Ende eines Ganges mit kahlen gelben Wänden. Sie war umgeben von mehreren Polizisten in Uniform, denen sie Anweisungen gab. Die dunklen Ringe unter ihren Augen und das blasse Gesicht spiegelten deutlich ihre Erschöpfung wieder. Zwar trug sie eine halbwegs ordentliche Tuchhose, aber die Schuhe waren voller Schlammspritzer. Der Kragen ihrer Bluse, der unter einem beigen Wollpullover hervorlugte, war zerknittert. In Chris tauchte kurz das Bild der früheren Susanne auf. Der gepflegten Erscheinung, die modische Kleidung trug, regelmäßig zum Friseur ging und auch vor Lidschatten und Rouge nicht zurückschreckte. Aber das war vor Peters Tod gewesen.
Als die Kommissarin ihn bemerkte, rang sie sich ein schmallippiges Lächeln ab. „Ah,
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