Mantelkinder
Seibold allein zu lassen.
Er verdrückte sich in die Küche zu Ulla Sieger, der Schwester von Monika Seibold, die seit Samstag hier war und versuchte, den Haushalt in Gang zu halten. Sie saß mit den Zwillingen Markus und Mareike am Tisch, wo sie gemeinsam kleine Teddybärchen aus einem dünnen Teig stachen. Eine Szene, die alltäglicher nicht hätte sein können. Gerade diese Normalität war es, die Chris einen Knoten im Hals wachsen ließ und einen noch viel größeren Klumpen im Magen.
Aber nachdem er sich Ulla Sieger vorgestellt hatte, setzte er sich neben Markus, strubbelte ihm kurz das Haar und sagte aufgeräumt: „Na, ihr beiden, kennt ihr mich noch?“
Mareike sah auf und legte das Plastikförmchen mit dem Teddy zur Seite. „Klar, du hast das mit dem Rohr in Ordnung gebracht.“
Ulla Sieger schalt ihre Nichte: „Du kannst doch nicht einfach einen Erwachsenen duzen!“
„Das geht schon in Ordnung“, beschwichtigte Chris.
Markus zupfte mit dem Finger ein Stückchen vom Teig ab. „Willste mal probieren? Ist echt lecker.“
„Nee, du“, lachte Chris. „Ich probier lieber die fertigen Plätzchen. Von rohem Teig kriegt man Bauchweh.“
„Weiß ich doch“, antwortete Markus verschmitzt. „Aber so ein bisschen macht einem nix. Wo ist Papa?“
„Im Wohnzimmer. Mit Frau Braun.“
„Meinst du, die Polizei fängt ihn?“
„Ganz sicher, Kumpel! Frau Braun ist die tollste Polizistin, die ich kenne. Der entkommt keiner!“, sagte Chris im Brustton der Überzeugung, und hoffte, dass er hier keine falschen Erwartungen weckte.
„Ich hab manchmal mit ihr gezankt“, sagte Mareike. „Mit Claudia, meine ich.“
„Das ist okay. Kleine Schwestern nerven nun mal ab und zu.“
Mareike sah plötzlich so aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen, und das Herz von Chris wurde noch schwerer, als es sowieso schon war. Er verstand nichts von Kindern und hatte keinen blassen Schimmer, wie man eine Zehnjährige trösten konnte.
Ulla Sieger stand auf und klatschte resolut in die Hände. „So, ihr beiden. Wie wäre es, wenn ihr ein paar Flaschen Sprudel aus dem Keller holt? Eure Limo ist auch aus. Und euer Papa will sicher ein Bier heute Abend.“
„Das können wir aber nicht alles auf einmal tragen“, maulte Mareike.
„Na, dann geht ihr halt zwei Mal. Also, ab mit euch!“
Stöhnend und unter viel Getöse machten sich die Kinder davon. Kaum hatten sie die Tür hinter sich geschlossen, plumpste Sieger auf den Stuhl zurück. Sie sah mit einem Mal unendlich erschöpft aus.
„Kriegen … kriegen Sie das hin?“, fragte Chris leise. „Ich … sonst besorge ich Ihnen eine Haushaltshilfe. Die Caritas hat spezielle Leute für solche Fälle.“
„Caritas!“, schnaubte Sieger. „Wir brauchen keine Caritas! Alles, was wir brauchen, ist unseren kleinen Sonnenschein zurück!“
Sie zog ein zerknittertes Taschentuch aus der Tasche ihrer Jeans und wischte sich die Augen. „Ich rede Blödsinn, oder? Als ob Claudia gleich wiederkommen würde.“
Behutsam legte Chris ihr eine Hand auf den Arm. „Niemand kann Ihnen Claudia zurückgeben. Aber ich könnte dafür sorgen, dass Sie etwas entlastet werden.“
Sieger blickte ihn energisch an. „Ich … ich schaff das schon. Und Wolfgang … Wolfgang will keine fremden Leute in der Wohnung. Was … hat Frau Braun Neuigkeiten?“
Chris schüttelte beklommen den Kopf. „Nein. Aber Ihr Schwager … er will alles von ihr wissen. Jede Einzelheit. Er hat keine Ruhe gegeben.“
Sieger nickte. „Das sieht ihm ähnlich. Hat sie … leiden müssen?“
Er hätte eine Menge darum gegeben, nicht antworten zu müssen. Aber sie sah ihn so lange an, dass er schließlich „Ja“ sagte.
„Wie?“, fragte sie heiser.
„Hören Sie, ich bin nicht befugt“, drückte er sich. „Und vielleicht sollten Sie sich das auch nicht antun.“
„Verstehe“, sagte Sieger tonlos. „Wenn Monika … ich meine, sie sollte es vielleicht auch nicht wissen.“
„Wie geht es Ihrer Schwester?“
Sie deutete mit dem Kopf Richtung Tür. „Ist im Bett. Sie ist … Sonntag ist sie hier Amok gelaufen. Seitdem kommt zwei Mal am Tag der Arzt und stellt sie ruhig.“
Gleich darauf kamen die Zwillinge zurück mit einem Korb voller Flaschen und roten Gesichtern. Chris nutzte die Gelegenheit, sich zu verabschieden. Nicht, ohne Sieger seine Karte zu hinterlassen, auf deren Rückseite er auch Karins Nummer notierte, und ihr das Versprechen abnahm, sich zu melden, wenn er etwas tun konnte,
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