Mantelkinder
die Strafverteidigung persönlich!“, rief sie spöttisch. „Wir haben alle schon große Sehnsucht nach dir!“
„Passiert nicht oft, dass ich hier willkommen bin“, gab Chris grinsend zurück.
Susanne fasste ihn am Ärmel seines Mantels und zog ihn ins Büro. „Komm erst mal rein.“
Sie trat wieder nach draußen und brüllte: „Heinz? Heinz! Ich brauche Hellwein, sofort!“
Keine dreißig Sekunden später stürmte er mit langen Schritten ins Zimmer. Auch er sah mitgenommen aus. Ein Zipfel seines zerknitterten Hemdes war aus der Hose gerutscht, der Kragen stand offen und das schmale Ende seiner Krawatte hing aus der Sakkotasche. Eigentlich so gar nicht seine Art.
„Hallo, Doktor Sprenger“, begrüßte er Chris flüchtig, zog die Hose über den unverkennbaren Bauchansatz und steckte den Hemdzipfel wieder ein. Erwartungsvoll sah er Susanne an.
„Teil du die Leute weiter ein“, bestimmte sie. „Ich muss Doktor Sprenger erst über den Stand der Ermittlungen informieren. Und besorg uns Kaffee, ja?“
Erst als sie allein waren, ließ sie sich auf ihren knarrenden Stuhl hinter dem Schreibtisch fallen, der beinahe so aufgeräumt war wie immer. Im Gegensatz zu Hellweins Tisch, auf dem DIN-A 4-Blätter, Mappen, Ordner und winzige Notizzettel in wildem Durcheinander lagen. Anscheinend brauchte er dieses kreative Chaos, denn Chris hatte seinen Arbeitsplatz selten in anderem Zustand gesehen. Und immer wieder wunderte er sich, dass Hellwein auf Anhieb fand, was er suchte.
Er zog sich einen Besuchersessel mit zerschlissenem grünem Polster heran, hängte seinen Mantel über die Lehne und setzte sich. „Über den Stand der Ermittlungen informieren“, wunderte er sich. Es wäre das erste Mal, dass Susanne ihm freiwillig etwas sagte.
Die Kommissarin fixierte ihren Freund aufmerksam. „Du weißt, was passiert ist?“
„Nur, was in der Zeitung stand.“
Susanne nickte. „Die Seibolds wollen dich als Anwalt. Du hattest sie wohl mal als Mandanten.“
Chris rutschte unruhig auf seinem Stuhl umher. Hatte er, ja. Wegen eines Wasserschadens. Das hier war etwas ganz anderes. Und er fragte sich plötzlich, ob er all dem, was von ihm erwartet wurde, gewachsen wäre.
„Ich hab ihnen gesagt, dass sie keinen besseren haben können“, fuhr Susanne fort, „aber da wusste ich noch nicht …“
Sie brach ab und fummelte eine Zigarette aus der Packung, die auf einem zugeklappten Ordner lag. Dann schob sie das Päckchen zu ihm herüber.
„Du musst das natürlich nicht machen. Ich meine, ich kann den Seibolds auch einen anderen …“
Sein Herz pochte mit einem Mal ein paar Takte schneller, als er sich eine Zigarette nahm. Vor was versuchte sie ihn zu schützen?
„Wenn ich´s nicht machen wollte, wäre ich nicht hier, oder?“, antwortete er und versuchte, eine möglichst gelassene Miene aufzusetzen. Aber er war nicht sicher, ob ihm das gelang.
„Chris! Der Tod von Claudia ist das widerlichste und entsetzlichste Verbrechen, das ich je aufklären musste. Und wenn … Herrgott noch mal … Ich meine, ich hab immer gedacht, dass uns Todesermittler nichts so schnell mitnimmt. Aber das hier … Chris, das wird für dich emotional das schwierigste Mandat, das du je hattest!“
Wenn die unterkühlte Polizistin so anfing, musste es furchtbar sein. So furchtbar, dass der Polizeipsychologe und der Seelsorger im Moment jede Menge Arbeit hatten. Chris unterdrückte den Impuls, einfach davonzurennen und sagte betont sachlich: „Gib mir die Fakten.“
Susanne griff nach einem prall gefüllten Umschlag, der neben den Zigaretten gelegen hatte und schob ihn in die Mitte des Tischs. Aber sie hielt die Hand darauf. „Bist du sicher?“
Es musste also noch eine Steigerung von furchtbar geben.
„Mach schon“, knurrte er und Susanne gab den Umschlag frei.
„Die Fotos vom Tatort und der ersten Autopsie“, erklärte sie, stand auf und trat hinter Chris. Die Gummisohlen ihrer verdreckten Schuhe quietschten dabei über den grauen Boden.
Es begann harmlos. Ein undefinierbares Kleiderbündel vor einem Baum. Daneben ein Plastikschild mit der Registriernummer der Spurensicherung. Ein Büschel blonder Haare im Geäst, die nächste Nummer. Ein Fußabdruck in feuchter Erde. — Tatortfotos, die zu jedem x-beliebigen Verbrechen gehören könnten.
Dann ein dunkelblauer Kinderschuh, halb mit Laub bedeckt. Beim nächsten Bild stöhnte Chris unterdrückt auf. Ein blut-und dreckverschmiertes Kindergesichtchen, um den schmalen Hals ein
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