Mantelkinder
den sie nicht beantworten wollte. Sie hat nur gesagt, ihr wäre da mal was passiert und da wäre ihr klar geworden, wie sehr Gott sie verlassen hatte. Klippstein ist daraufhin ins Archiv gestiegen und hat eine alte Akte ausgegraben. Hildegard Albertini ist vor knapp fünfzehn Jahren Opfer einer Vergewaltigung geworden — am Karlscheurer Weiher. Der Täter wurde nie gefasst.“
Hellwein pfiff durch die Zähne. „Wenn sie das nicht aufgearbeitet hat, wird sie danach erst recht durch den Wind gewesen sein. Wie hat sie´s denn geschafft, die Kinder überhaupt mitzunehmen?“
„Das war gar kein Problem. Sie haben die Albertini ja gekannt und verehrten sie regelrecht. Annika hat sie direkt vor dem Kindergarten abgepasst und behauptet, sie hätte gerade die Mutter getroffen, die nichts dagegen hätte, wenn Annika einen Ausflug macht. Bei Sonja ist es ähnlich gelaufen. Natürlich waren die Mädchen begeistert. Ein Ausflug! Auf einem Schiff! Einem richtigen Schiff! Den Dennis kannte sie wohl aus der Straßenbahn. Die Kaschenbachs wohnen nur zwei Straßen von ihr entfernt und er ist jeden Morgen mit der gleichen Bahn zur Schule gefahren wie sie.“
Susanne schlug die Beine übereinander und rutschte etwas tiefer in den Stuhl, ehe sie weiter berichtete. „Alles andere ist denkbar simpel. Seit Albertini nicht mehr raucht, lutscht sie ein Melissebonbon nach dem anderen. An Nitrazepam ist sie problemlos gekommen. Da musste sie ihrem Hausarzt nur sagen, dass sie mal wieder schlecht drauf war. Die handgemalten Schals stammen von ihrer Tante. Seidenmalerei ist deren Hobby, und sie produziert Tücher und Schals in Mengen. Ob da das eine oder andere Teil gefehlt hat, ist nicht weiter aufgefallen. Umhang und Mantel hat sie tatsächlich in diesem Trachtenshop auf der Dürener Straße gekauft, die Kerzen in dem Haushaltswarengeschäft gegenüber.“
Hellwein ließ das alles erst mal eine Weile sacken. Dann aber schüttelte er den Kopf. „Eins verstehe ich nicht. Du hast gesagt, sie hatte ein Alibi.“
„Hmh“, machte Susanne. „Genau da liegt auch ein Problem. Hansen ist drauf und dran, ihren Job an den Nagel zu hängen.“
„Wieso?“
„Sie macht sich die bittersten Vorwürfe. Sie hat einfach die falsche Frage gestellt, verstehst du? Sie hat im Schulsekretariat nachgefragt, ob Albertini die letzten Wochen ohne Fehlzeiten im Dienst war. Von der Woche, nachdem Claudia gestorben war, mal abgesehen, ist ihr das bestätigt worden.“
Sie sah Hellweins gerunzelte Stirn und erklärte weiter: „Sie hatte keine Fehlzeiten, Heinz. Aufgrund ihres Alters sind ihre Stunden reduziert worden. Das ist wohl bei Lehrern häufig der Fall. Und seit diesem Schuljahr war der Stundenplan so gestaltet, dass sie freitags gar keinen Dienst mehr hatte. Aber weil Hansen nur nach Fehlzeiten gefragt hat …“
„Gott!“ Hellwein schauderte unwillkürlich. Eine unpräzise Frage, auf die man eine präzise Antwort bekam, und schon hatte jemand ein perfektes Alibi. „Und jetzt?“
„Jetzt? Maurer liegt auf den Knien, damit Hansen bleibt. Keine Ahnung, wie das ausgeht.“
„Und was passiert mit Albertini?“
„Breitner erhebt zwar Anklage, aber wenn sie wirklich schizophren ist, wird es nicht mal zur Hauptverhandlung kommen. Jeder Sachverständige wird ihr Schuldunfähigkeit attestieren, das ist so gut wie sicher.“
„Weißt du, auch wenn sie verrückt ist … Schade, dass ich von der Strömung abgetrieben worden bin. Ich hätte sie ersäufen sollen“, murmelte Hellwein und lieferte Susanne damit das Stichwort. Eine gehörige Abreibung hatte er verdient, ohne Zweifel.
„In dieses Wasser zu springen, war das Dämlichste, was du dir je geleistet hast, Heinz Hellwein!“, redete sie sich von einer Sekunde zur anderen in Rage. „Es war unverantwortlich und unprofessionell. Hast du noch nie ein Polizeihandbuch gelesen? Hat dir in der Ausbildung nie einer was von Eigensicherung erzählt? Ich hätte eigentlich gedacht, dass ein Hauptkommissar sich anders verhält!“
Hellwein war knallrot angelaufen. Natürlich hatte sie Recht. So kopflos sollte ein Polizist nicht reagieren. Vor allem, wenn man den Rang eines Hauptkommissars … Wie kam sie auf Hauptkommissar?
„Wie kommst du auf Hauptkommissar?“, fragte er laut.
„Hauptkommissar Hellwein, Erste Hauptkommissarin Braun. Ab Januar ganz offiziell. Für deine Heldentat sind wir auch noch befördert worden!“
Sie lächelte nicht einmal, als sie aufstand und sich zu Tür wandte. Sie hatte
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