Mari reitet wie der Wind
schüttelte den Kopf und bockte. Ihre Nüstern zitterten, ein Schauer nach dem anderen überlief ihr nasses Fell. Sie hatte die Lippen über die Zähne hoch gezogen, ihr gesenkter Kopf schwang hin und her, ihre Vorderbeine waren weit gespreizt. Doch Aumale war kein schlechter Reiter und ließ sich nicht abwerfen. Zornig versuchte Paloma, den Kopf herabzuducken, um richtig bocken zu können, aber Aumale hielt die Zügel straff. In derselben Sekunde jedoch, da er die Zügel etwas lockerte, begann Paloma, durch den Hof zu springen. Wutentbrannt über den Fremden, der sich auf ihrem Rücken festklammerte, wechselte Paloma unentwegt den Schritt. Sie versuchte, ihren Reiter abzustreifen, raste so nahe am Zaun vorbei, dass Mari ihren beißenden Schweißgeruch spürte. Immer wieder rammte der Gutsherr seine Sporen in die Flanken des Pferdes. Dazu hob er die Peitsche, schlug über Palomas Nüstern, dass sie vor Schmerz schnaubte. Auf diese Weise gelang es ihm, das Pferd in die Mitte des Hofes zu treiben. Jedes Mal, wenn er die Stiefel in die weiche Stelle zwischen Vorderbeinen und Rippen drückte, drangen die Sporen tief in Palomas Fleisch. Mari sah Blutflecken auf ihrem weißen Fell. Erbarmungslos schwang Aumale die Peitsche, traf immer wieder die wunden Flanken des Tieres. Ohne Unterlass suchte er eine neue, unverletzte Stelle, um den Widerstand des Pferdes zu brechen und seine Kraft zu erschöpfen.
In rasendem Tempo galoppierte Paloma im Kreis. Mähne und Schweif peitschten durch die Luft, ihr Wiehern wurde schrill wie Trompetenstöße. Auf einmal blieb die Stute wie angewurzelt stehen. Sie kickte beide Hinterbeine hoch in die Luft, sodass es aussah, als würde sie sich überschlagen. Der Gutsherr, der eine Sekunde lang aus dem Gleichgewicht geworfen war, lockerte seine Knie. Er wurde hochgeworfen, flog kopfüber durch die Luft und landete mit einem dumpfen Aufschrei auf dem Boden. Zitternd, mit irrem Blick stand die Stute da. Ihre blutverschmierten Flanken hoben und senkten sich stoßweise. Sie schüttelte den Kopf, ihre Hufe scharrten im Sand. Taumelnd und staubbedeckt kam Marcel Aumale auf die Füße, hielt sich den Arm mit schmerzverzerrtem Gesicht. Gaston und Paulo liefen auf ihn zu, stützten ihn. Gaston betastete mit geübten Fingern den verletzten Arm, bewegte ihn vorsichtig hin und her. »Nichts gebrochen«, sagte er beruhigend. »Sie haben Glück gehabt, Monsieur.« »Verfluchter Gaul!«, zischte der Gutsherr. »Der Teufel soll ihn holen!« Gaston verzog keine Miene. »Ich habe Sie gewarnt, Monsieur.« Doch der Zorn des Besitzers ließ nicht nach. »Jetzt ist endgültig Schluss! Fangt diese ver rückte Bestie ein. Paulo, mein Gewehr! Aber sofort!« »Nein!«, schrie Mari. Das Rauschen der Blätter erstickte ihre Stimme. Doch ein Wunder geschah: Als Gaston und Paulo sich dem Tier nähern wollten, sammelte die Stute ihre letzten Kräfte. In ihren Augen glomm ein rötlicher Funke. Ihr schweres Röcheln wurde zu einer Art Fauchen. Sie setzte zum Galopp an, jagte auf die Männer zu, die in letzter Sekunde auf die Seite sprangen. Hass und Furcht verliehen Paloma erstaunliche Kräfte. Mit hämmernden Hufen raste sie dem Zaun entgegen, zog die Beine ein und schnellte empor. Ein wilder, entfesselter Satz brachte sie über das Hindernis. Schon sprengte sie durch das Buschwerk, unter den niedrigen Ästen hindurch. Ohne seinen Galopp zu mäßigen, jagte das Pferd mit Sattel und Zaumzeug den Pfad in Richtung Meer hinab, verschwand hinter den Bäumen. Das Trommeln der Hufe entfernte sich. Dann trat Stille ein; nur noch die hohen Pinien rauschten im Wind. Die Männer standen wie erstarrt, bis Gaston verblüfft das Schweigen brach. »Ich an Ihrer Stelle, Monsieur, würde mich freuen über das Pferd. Ich habe noch nie erlebt, dass ein Camargue-Pferd einen solchen Sprung geschafft hat.«
Mari wartete nicht auf die Antwort des Gutsbesitzers. Atemlos kroch sie auf Händen und Knien durch die Büsche. Als sie sicher war, dass sie niemand mehr sehen konnte, sprang sie auf die Füße und rannte davon.
6. Kapitel
Es wurde Abend und bald brach die Nacht herein. Der Wind hatte sich gelegt, aber Staubteilchen hingen noch in der Luft und die Sterne schimmerten hinter einem Dunstvorhang. Später ging der Mond auf, wie ein rosafarbener Teller. Geisterhaftes Licht fiel auf das dunkle Gestade. Seit Stunden wanderte Mari durch die Sümpfe, wobei sie immer wieder ihre kurzen, schrillen Pfiffe ausstieß. Sie wusste, dass die scheinbar weithin
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