Mari reitet wie der Wind
1. Kapitel
Unermüdlich lief Mari über die staubige Landstraße. Schon seit fast einer Stunde war sie unterwegs – unterwegs zu Paloma, ihrem Pferd. Sie war verzweifelt gewesen vor Sehnsucht, aber nun ging es ihr wieder besser. Zu beiden Seiten der Straße dehnte sich der rissige Boden, glitzernd von Salzkristallen. Möwen kreisten in der blaugelben Luft. Über einem Teich schimmerten Luftspiegelungen, immer wieder brauste der Wind hoch und legte sich wieder. Die Sonne glühte; das Weiß war so blendend, dass Mari halb die Augen schloss. Sie lief gleichmäßig und lautlos, mit lockeren Bewegungen und niemals zu schnell. Auf diese Weise kam sie gut voran und schaffte mühelos größere Strecken, ohne außer Atem zu kommen. Ihre Schultasche hatte sie unter einem Busch versteckt, dort, wo der Damm von Les-Saintes-Maries-de-la-Mer endete und Tang in schwärzlichen Mustern auf dem Sand trocknete. Die Gegend wurde allmählich grüner. Schilf raschelte im heißen Wind und über den Sümpfen lag Sonnenglanz. Im Schatten einiger Schirmpinien weideten braune Schafe, bewacht von einem großen Schäferhund und seinem Herrn. Als Mari vorbeilief, reckte der Hund friedlich die Ohren. Auf seinen Stab gestützt, hob Gabriel, der Hirte, grüßend die Hand. Mari lächelte ihm zu, lief aber ohne Halt weiter. Gabriel sah dem Mädchen nach. Sie trug Jeans mit Rissen an den Knien, ein verwaschenes rotes T-Shirt und eine Kette bunter Holzperlen, die bei jedem Schritt leise aneinanderschlugen. Sie hatte ein ovales zimtfarbenes Gesicht; ihre braunen Locken wehten im Wind. Gabriel nickte nachdenklich vor sich hin. Ein Lächeln, halb wehmütig, halb zärtlich, wanderte über sein runzeliges Gesicht. »Siehst du dieses Mädchen, Grincho?«, sagte er zu seinem Hund. »Sie will zu Paloma, ihrer weißen Stute. Was für eine Schande, die beiden zu trennen! Dabei hat sie der alte Emilio – Friede seiner Seele! – mit der Schnur der Ratte verbunden. Grincho, mein guter Hund, weißt du, was das bedeutet? Die Schnur der Ratte wird aus drei Pferdehaaren geflochten. Wie man es rich tig macht, wissen nur noch die Großmütter. Emilios Schnur war über hundert Jahre alt. Verbindet man zwei Menschen mit dieser Schnur, werden sie wie Brüder und Schwestern sein. Das gilt auch für Mensch und Tier. Ach, Grincho, mein Lieber, du kennst es ja selbst. Als du ein kleiner Welpe warst, habe ich die Schnur um meine Hand und deine Pfote gewickelt. Jetzt sind wir Brüder. Und Mari und Paloma, siehst du, sie sind Schwestern. Marcel Aumale hat sie auseinandergerissen. Dieser Kerl stinkt nach Geld wie meine Füße nach schmutzigen Socken. Aber das wird ihm kein Glück bringen.« Grincho war daran gewöhnt, dass Gabriel mit ihm sprach. Er legte die Schnauze auf seine Pfoten und blinzelte, als wollte er damit seine Zustimmung geben. Die Sache mit Paloma war vor drei Wochen geschehen. Onkel Emilio hatte das Dach seiner Cabane flicken wollen – er wohnte schon lange in solch einem hüttenartigen, weiß gekalkten Haus mit einem Binsendach, wie es sie in dieser Gegend oft gab. Onkel Emilio, der schon jahrelang Witwer war, war von der Leiter gefallen, hatte sich das Genick gebrochen und war sofort tot gewesen. Nach der Beerdigung hatte sich herausgestellt, dass er Marcel Aumale Geld schuldete. Dieser beschlagnahmte das Haus und das kleine Stück Land. Auch Emilios fünf Schafe, die Stute Lia und das Fohlen Paloma gingen in seinen Besitz über. Mari hatte vor Schmerz laut geschluchzt. »Paloma gehört mir! Onkel Emilio hat mir das Pferd geschenkt!« »Sei still«, hatte die Mutter traurig gesagt. »Aumale hat ein Recht auf das Fohlen. Emilio hat Geld von ihm genommen und es nicht zurückgezahlt.« Als Mari beim Laufen an Marcel Aumale dachte, wurde ihr heiß. Ihre Wangen brannten vor Verzweiflung und Wut. Wie sie diesen Menschen verabscheute! Marcel Aumale stammte aus dem Norden, war Immobilienhändler von Beruf. Er baute Eigentumswohnungen und Hotels. Mit »Spazierritten« auf Camargue-Pferden lockte er die Kundschaft an. Angeführt von einem Reitlehrer, der als Gardian verkleidet war, also als Viehhüter, ritten die Touristen durch das Naturschutzgebiet, ohne Rücksicht auf die empfindliche Tier-und Vogelwelt. Das Bürgermeisteramt hatte die Genehmigung dazu erteilt. Bestechung, flüsterten die Einheimischen. Mari hatte schon immer Mitleid mit den Pferden von Marcel Aumale gehabt. Sie wirkten lustlos und abgestumpft, das Feuer in ihrem Blick war erloschen. Der Gedanke,
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