Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
dessen nur darauf zu vertrauen, was ihm sein Augenblicksinstinkt eingab. Da er mir aufmunternd zunickte, fiel ich mit meiner eher dünnen Stimme beim Kehrreim in seinen Gesang ein.
Wir sangen tapfer alle fünfzehn Strophen durch, damit unser Verfolger uns auch wirklich nicht aus den Augen verlor. Als wir nach strammem Marsch und noch immer aus voller Kehle singend, in der Nähe des Hohlweges angekommen waren, schlug Bérenger einen scharfen Haken, und wir stiefelten querfeldein durch das hohe Gras einer noch nachtfrischen, feuchten Wiese, in die entgegengesetzte Richtung, nämlich auf einen der zahlreichen Ausläufer der Garrigue zu.
Erstes Morgenrot brachte den Horizont zum Glühen.
Bérenger, der sich anscheinend sicher war, im Augenblick genügend Abstand zu unserem Verfolger gewonnen zu haben, wurde nun gesprächig.
„Ich hoffe, Billards Spion hat gutes Schuhwerk an seinen Füßen! Ich habe nämlich einige Überraschungen für ihn bereit. Heute kann er etwas Besonderes erleben. Und du, Marie – du verhältst dich keinesfalls wie Lots Weib! Dreh dich nicht um nach ihm, hörst du. Er darf nicht wissen, dass wir ihn entdeckt haben ... und noch etwas: Jammere mir nicht die Ohren voll, wenn dir die Füße zu schmerzen beginnen. Unser Weg wird hart sein, steinig, ungewohnt für einen Spion, aber auch für dich mühselig. Du wolltest unbedingt mit mir kommen, und jetzt gibt es kein Zurück mehr. Meinethalben kannst du morgen und übermorgen im Bett bleiben, um dich zu erholen. Heute jedoch musst du ausnahmsweise einmal nach meiner Pfeife tanzen.“
„Und die Höhle?“ wagte ich leise zu fragen.
„Die Höhle? Die können wir in der nächsten Zeit vergessen. Vielleicht sogar für immer!“
„Complante des pélerins d`Aurillac ...“ schmetterte jetzt mein Geliebter und holte mit mächtigen Schritten aus. Ich hatte Mühe, ihm zu folgen, konnte mir aber ein inwendiges Lächeln nicht verkneifen. Ach, Bérenger, dachte ich, wie schön ist es doch, einfach in deiner Nähe zu sein. Ich kannte all seine Schwächen, dennoch war er für mich noch immer der strahlende Held meiner Jungmädchenzeit. Ich liebte ihn – ich hatte mitunter Angst vor ihm, an diesem Tag aber vor allem Angst um ihn.
25
„Und ich selbst habe nur an diesem Ort meinen Platz ...“
Francis Ponge , Le Parnasse
Bérenger sang und sang. Sein Rucksack tanzte auf seinem Rücken hin und her, und seine Schritte wurden, je höher die Sonne stieg, immer sicherer, immer schneller, obwohl der steinige Boden unter uns zu allem anderen als zum Spazierengehen einlud.
Was mich an Bérengers Absicht, einen Teil der Garrigue zu durchqueren, beruhigte, war, dass er sich seit seiner Kindheit gut auskannte in dieser Gegend und sicherlich bereits jetzt genauestens wusste, was zu tun war, um den Verfolger bei passender Gelegenheit abzuhängen.
Auch Boudet hatte sich seit langem als Wandersmann und Bergsteiger hervorgetan, was ihm bei seinen mysteriösen Suchaktionen nun hoffentlich zugute kam. Bérengers letzte Aufzeichnungen hatten allerdings wenig optimistisch geklungen. Boudet hatte ihm geschrieben, dass er nach seiner Rückkehr von Paris unbedingt die Grotte von Lombrive aufsuchen wollte, eine der befestigten Katharerhöhlen im Ariège-Tal, und Bérenger hatte daruntergekritzelt:
„Langsam habe ich das Gefühl, wir finden Arkadien nie, weil es diesen Ort gar nicht gibt!“
Steil bergauf ging es, auf jene berüchtigte, weite, trockene und winddurchtobte Hochebene zu. Die Sonne brannte auf unsere Köpfe hinab.
Ich hatte Schwierigkeiten, mit Bérenger Schritt zu halten, musste zeitweise fast rennen, um an seiner Seite oder wenigstens nicht allzu weit hinter ihm zurückzubleiben. Bérenger nahm keine Rücksicht auf meine kurzen Beine. Obwohl ich feste Stiefel an den Füßen hatte, knickte ich mehrere Male um und konnte einmal gerade noch einen halblauten Schmerzensschrei unterdrücken.
Bérenger schritt unbeirrt weiter. Bald schrullte ich mindestens fünf Meter hinter ihm her. Meine Beine schmerzten, und meine Kehle war ausgetrocknet. Ich konnte an nichts anderes mehr denken, als an die Wasserflasche in Bérengers Rucksack.
„Krchch …“ Was war das? Das Herz blieb mir fast stehen vor Schreck, als aus einem kleinen Wacholderstrauch eine offenbar aufgeschreckte Lerche hervorstob, um sich hoch in die Luft zu winden. Wenn ein so kleiner Vogel mich derart aus der Fassung brachte, wie schlecht musste es da um meine Nerven bestellt sein!
Nach einer guten
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