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Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben

Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben

Titel: Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Sommer
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hatte sie das Blatt zurück in seinen Umschlag und den hinter die unterste Schreibtischschublade gestopft. Ja, sie nickte bekräftigend, sie hatte ihn dorthin verbannt, aber wo war er dann jetzt? Sie hätte ihn besser gleich zerrissen oder verbrannt, überlegte sie. In dem Moment war es ihr nur darum gegangen, ihn vor Antonias Augen zu verbergen, reiner Instinkt. Erst als diese Gefahr gebannt war, hatte sie sich Zweifel an ihrer Schlussfolgerung einreden können: Sie war grundlos in Panik ausgebrochen, es gab bestimmt eine vollkommen harmlose Erklärung. Atemlos war sie ins Schlafzimmer gestürmt, keiner da, sie hatte die Schränke aufgerissen, leer, verdammt, seine Sachen waren fort, er war fort, er hatte sie Hals über Kopf sitzen lassen, wegen ein paar Buchstaben, die das Papier nicht wert waren, auf dem sie standen, einfach fort.
    Sie vermochte bis heute nicht zu sagen, woher sie die Kraft genommen hatte, die Scherben aufzulesen, jede einzelne. Und an jeder einzelnen hatte sie sich geschnitten. Bis aufs Blut. Nicht immer unabsichtlich. Einmal, sie spürte, wie sie vor Scham errötete, hatte sie bereits Wasser in die Wanne eingelassen, die Rasierklinge in der Hand, sorgsam die Badezimmertür verschlossen, damit es nicht Antonia wäre, die sie fände. Antonia, der es bei einer Pflegefamilie so viel besser ginge als bei ihr. Versagerin, die nicht mal einen Mann halten konnte. Und auch sonst nichts zuwege brachte. Letztlich hatte Antonia sie gerettet, oder der Lehrer, dessentwegen sie früher als gewöhnlich aus der Schule gekommen war. Fröhlich trällernd.
    Antonia sang so gern, so unbekümmert, wenn auch leicht schief, traf zumeist haarscharf neben den geforderten Ton. Nur wenn sie gemeinsam sangen, konnte sie mithalten. Bloß kein Kanon, keine Harmonien. Irgendwas am Gehör, nahm sie an. Antonia bekümmerte es wenig. Leider. Sie hätte sich gewünscht, dass Antonia ihr Talent geerbt hätte und wahr machte, was sie selbst nicht konnte. Stellvertretend ihren geheimen Traum lebte. I will survive , hatte sie gesungen. Ausgerechnet. Kein Text für eine Zwölfjährige. Aber sie hatte mit wachsender Inbrunst geschmettert, als wüsste sie, wovon sie sang. Ein Zeichen, hatte sie gedacht, das musste etwas zu bedeuten haben. Sie hatte die Klinge fallen lassen, zugesehen, wie sie trudelnd auf den Grund der Wanne gesunken war. Leicht. Tödlich. Nicht einmal das kriegte sie hin. Ein Schluchzen war ihr in die Kehle gestiegen, unvermittelt in ein Lachen mündend, hysterisch und schrill, aber doch ein Lachen. Und sie hatte die Tür aufgeschlossen, um mitzusingen. I will survive.
    Ab da war es aufwärtsgegangen. In winzigsten Schritten. Und jetzt war sie angekommen. Ganz oben.
    Lange hatte sie sich kaum getraut, an diesen Neuanfang zu glauben, an ein neues Glück, aber heute war es so weit. Frank würde sie heiraten, auf den Tag genau fünf Jahre, nachdem ihr ohne jede Vorwarnung der Boden unter den Füßen fortgerissen worden war. Sie hatte überlegt, ob sie sich gegen das Datum sträuben sollte, und hatte doch darauf verzichtet. Natürlich wusste er, dass sie verlassen worden war, aber davon abgesehen war Christian kein Thema zwischen ihnen. Vielleicht war es genau richtig, auf diese Weise etwas Schlimmes durch etwas Gutes zu ersetzen. Sie wünschte nur, Antonia könnte das auch so sehen.
    So. Fertig. Sie klimperte mit den Wimpern. Nicht schlecht, befand sie, zog sich aus, wusch sich und tänzelte zurück ins Schlafzimmer. Slip, BH , Top, noch ein kurzer Blick voller Vorfreude auf das Kostüm, und dann, Konzentration bitte, streifte sie ganz vorsichtig die Strumpfhose über. Geschafft. Sie holte noch einmal tief Luft, nahm den Rock vom Bügel und stieg hinein, schloss den Reißverschluss und zog das Jäckchen über, bevor sie in die Pumps schlüpfte und sich vor den Spiegel stellte. Perfekt. Erschrocken fuhren ihre Hände zum Mund, bild dir bloß nichts darauf ein, schalt sie sich und verengte die Augen zu Schlitzen, als würde sie laut mit ihrem Spiegelbild schimpfen. Sie hielt inne. Ließ die Hände langsam wieder sinken. Nur heute, bat sie, lass mich nur heute einmal glauben, dass ich jemand Besonderes bin. Eine geheimnisvolle, schöne Frau, der man hinterhersieht. Vielleicht pfeift? Sie gestattete sich, wieder zu lächeln.
    Sie stolzierte hinüber ins Wohnzimmer. Lichtdurchflutet. Was für ein Glück. Sie würde nicht mal einen Mantel brauchen. Wär auch zu schade gewesen. Was eigentlich längst Herbst sein sollte, war seit

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