Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
sie innerlich, eher friert die Hölle zu. Der war korrekt untergetaucht. Hatte wahrscheinlich sogar seinen Namen geändert. Im Netz hatte sie ihn bis jetzt jedenfalls nicht finden können. Dass sie ihn suchte, hatte sie ihrer Mutter lieber nicht erzählt.
Die Musik war verstummt. Wie lange schon? Es hupte vorn. Das würde Frank sein. Sie lauschte. Ja, das war unverkennbar ihre Mutter, die ihm etwas zurief. Eine geschätzte halbe Oktave höher als normalerweise. Die Autotür knallte, und der Motor jaulte auf. Angeber.
Sie atmete tief ein und aus. Wie vorm Sprung vom Zehner. Genauso fühlte sie sich. Trotzdem war ihr klar, dass sie das nicht bringen konnte. Dort nicht aufzukreuzen, würde ihrer Mutter das Herz brechen. Und einmal reichte ja wohl. Sie biss die Zähne zusammen, rannte nach vorn und ließ sich zur Tür hinein. Eilig stopfte sie ein paar Klamotten und Waschzeug in ihren Rucksack. Sie hatte keinen Bock, hier auf Familie zu machen, besser, sie übernachtete bei Kathrin. Wenigstens würde sie so von der Hochzeitsnacht nichts mitkriegen. Ab morgen würde sowieso alles anders. Sie seufzte.
Einer Eingebung folgend, schloss sie ihr Zimmer ab und stopfte den Schlüssel in die Tasche ihrer Jeans, zu dem Brief, den sie im Sekretär im Wohnzimmer gefunden hatte. Ungelesen, immer noch.
Sie hatte gestern nach einem Umschlag gesucht, natürlich keinen gefunden, in der ersten Schublade nicht, der zweiten auch nicht, und dann war sie so sauer gewesen, dass sie viel zu heftig an der dritten gezogen hatte. Die war ihr auf den Fuß gedonnert, Mann, hatte das wehgetan. Als der Schmerz nachgelassen hatte, war sie in die Hocke gegangen, um nachzusehen, ob noch alles dran war, am Fuß und an der Schublade. Ihr Fuß hatte eine mächtige Beule davongetragen, die Schublade keinen Kratzer abbekommen. Sie hatte ihr gerade einen Tritt versetzen wollen, um für mehr Gerechtigkeit zu sorgen, da hatte sie den Umschlag entdeckt. Der konnte nicht unabsichtlich dort gelandet sein, das war ihr sofort klar gewesen, denn in den Schubladen steckte so wenig, dass er nicht einfach über den Rand hätte rutschen können. Sie hatte zögernd die Hand nach ihm ausgestreckt, das geht dich nichts an, hatte eine innere Stimme sie gewarnt, und sie war zurückgezuckt. Doch dann hatte sie den Schlüssel in der Haustür gehört, wieso kamen Mütter immer im blödesten Moment nach Hause?, und sie hatte den Brief eingesteckt, ohne weiter drüber nachzudenken, die Schublade wieder eingesetzt und sich beeilt, den Fernseher einzuschalten.
Sie schloss das Haus ab, holte ihr Fahrrad aus dem Schuppen und machte sich lustlos auf den Weg zum Rathaus. Sie kam gut durch, selbst die Ampel Bremer Straße, an der man sonst warten musste, bis man schwarz wurde, zeigte Grün. Sie würde pünktlich dort sein, dabei war Pünktlichkeit keine ihrer hervorstechenden Eigenschaften. Ah, super, Scherben auf dem Radweg! Sie fuhr drüber und hoffte auf einen Platten. Nichts passierte. Jetzt konnte sie nur noch ein Unfall retten, ein klitzekleiner? Sie. Nicht ihre Mutter, die sich gleich ausliefern würde an diesen, diesen … ihr fiel kein passendes Wort ein. In guten wie in schlechten Zeiten. Schlechte, darauf würde sie wetten. Bis dass der Tod uns scheidet. Das konnte dauern, er war nur zehn Jahre älter als ihre Mutter. Warum passierte nicht noch irgendetwas, das die Hochzeit in letzter Sekunde verhinderte?
Du schiebst echt voll die Panik, wetterte sie und trat kräftiger in die Pedale. Sie begann zu keuchen. Irgendwie war es zu warm heute. Trotzdem wünschte sie, es wäre Frühling, nicht Herbst. Bald wäre es zu kalt, um über längere Strecken dem Familiengetue zu entkommen. Zu Kathrin mochte sie nur in Ausnahmefällen. Wie heute. Sie hoffte, dass deren Vater wirklich noch auf Montage war. Ihre Brüder waren schlimm genug, da brauchte es den Alten nicht noch.
Hauptsache, Frank schaffte es nicht, Kathrin zu vergraulen. Er hatte schon ein paar Andeutungen über ihren Umgang abgelassen. Bis jetzt hatte ihre Mutter weggehört. Aber wie lange würde sie durchhalten? Kathrin war nun mal ihre beste Freundin, und sie konnte sich nicht vorstellen, wie das werden sollte, wenn sie sich nicht mehr zu Hause treffen konnten. Zumal ihr Bauch ihr sagte, dass es bestimmt kein Fehler war, gut auf ihre Mutter aufzupassen. Also da zu sein. Sich sein falsches Gesülze anzuhören. Und ihre Reaktion darauf zu ertragen. Sie war total unterwürfig. Auch wenn andere, die sie nicht so gut
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