Marina.
ein wenig befangen an, ich wusste nicht genau, wovon sie eigentlich sprach. Für sie war es jedenfalls wichtig.
»Man kann vom Leben nichts verstehen, solange man den Tod nicht versteht«, sagte sie.
Wieder begriff ich nicht recht, was sie meinte.
»Eigentlich denke ich nicht viel darüber nach«, sagte ich. »Über den Tod, meine ich. Wenigstens nicht ernsthaft …«
Sie schüttelte den Kopf wie ein Arzt, der die Symptome einer verhängnisvollen Krankheit erkennt.
»Du bist also einer dieser ahnungslosen Einfaltspinsel …«, sagte sie nachdenklich.
»Ahnungslos?«
Jetzt allerdings war ich aufgeschmissen. Hundertprozentig.
Marina ließ ihren Blick schweifen, und ihr ernstes Gesicht machte sie älter. Ich war hypnotisiert von ihr.
»Vermutlich hast du die Legende nicht gehört«, begann sie.
»Legende?«
»Das hab ich mir gedacht. Na ja, egal. Es heißt, dass der Tod Boten hat, die durch die Straßen ziehen und die Ignoranten und Hohlköpfe suchen, die nicht an ihn denken.«
Sie schaute mich durchdringend an.
»Wenn einer dieser Unglücklichen auf einen Todesboten stößt, führt ihn dieser in eine Falle, ohne dass er es merkt. Eine Falltür zur Hölle. Diese Boten haben ihr Gesicht bedeckt, damit man nicht sieht, dass sie keine Augen haben, sondern zwei schwarze Löcher, in denen Würmer hausen. Wenn es keinen Ausweg mehr gibt, enthüllt der Bote sein Gesicht, und dem Opfer wird der Horror bewusst, der ihn erwartet …«
Ihre Worte schwebten mit Echo dahin, während sich mein Magen zusammenzog.
Erst jetzt zeigte Marina ihr verschmitztes Lächeln. Ein Katzenlächeln.
»Du nimmst mich auf den Arm.«
»Natürlich.«
Es verstrichen fünf oder zehn Minuten, vielleicht auch mehr, ohne dass ein Wort fiel. Eine Ewigkeit. Eine leichte Brise strich durch die Zypressen. Zwischen den Gräbern flatterten zwei weiße Tauben umher. Eine Ameise kletterte mein Hosenbein hoch. Viel mehr ereignete sich nicht. Bald merkte ich, dass mir ein Bein einschlief, und ich befürchtete, mein Hirn werde denselben Weg einschlagen. Ich wollte gerade protestieren, als Marina die Hand hob und mir Schweigen gebot, noch bevor ich die Lippen öffnete. Sie deutete auf den Säulengang des Friedhofs.
Eben war jemand hereingekommen. Es schien eine in einen schwarzen Samtumhang gehüllte Frau zu sein. Eine Kapuze bedeckte ihr Gesicht. Die über der Brust gekreuzten Hände steckten in ebenfalls schwarzen Handschuhen. Der Umhang reichte bis auf den Boden, so dass ihre Füße nicht zu sehen waren. Von unserem Standort aus erweckte die gesichtslose Gestalt den Eindruck, dahinzugleiten, ohne den Boden zu berühren. Mir lief es kalt den Rücken hinunter.
»Wer …?«, flüsterte ich.
»Pscht.«
Hinter Säulen verborgen, beobachteten wir die Dame in Schwarz. Wie ein Gespenst bewegte sie sich zwischen den Gräbern. In den behandschuhten Händen trug sie eine rote Rose, die aussah wie eine frische Stichwunde. Die Frau kam auf ein Grab direkt unter unserem Beobachtungsposten zu und blieb schließlich mit dem Rücken zu uns stehen. Da sah ich, dass dieser Grabstein im Gegensatz zu den anderen keinen Namen trug. Auf dem Marmor war nur ein Symbol zu erkennen, das wie ein Insekt aussah, ein schwarzer Schmetterling mit ausgebreiteten Flügeln.
Die Dame in Schwarz blieb fast fünf Minuten reglos am Grab stehen. Schließlich beugte sie sich hinunter, legte die Rose auf den Stein und ging langsam davon, so, wie sie gekommen war. Wie ein Gespenst.
Marina warf mir einen nervösen Blick zu und rückte näher, um mir etwas zuzuflüstern. Ich spürte ihre Lippen am Ohr, und in meinem Nacken begann ein Tausendfüßler mit Feuerbeinchen Samba zu tanzen.
»Vor drei Monaten hab ich sie zufällig entdeckt, als ich Germán begleitete, der Blumen für seine Tante Reme brachte … Sie kommt jeweils am letzten Sonntagvormittag des Monats um zehn Uhr und legt immer die gleiche Rose aufs Grab. Sie trägt immer denselben Umhang, diese Handschuhe und die Kapuze. Und sie kommt immer allein. Nie sieht man ihr Gesicht. Nie spricht sie mit jemandem.«
»Wer liegt denn da begraben?«
Das seltsame eingravierte Symbol hatte meine Neugier geweckt.
»Ich weiß es nicht. Im Friedhofsregister steht kein Name …«
»Und wer ist diese Frau?«
Marina wollte eben eine Antwort geben, aber als sie die Silhouette der Dame durch den Säulengang verschwinden sah, nahm sie mich bei der Hand und stand eilig auf.
»Schnell, sonst verlieren wir sie.«
»Sollen wir ihr denn
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