Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Marina.

Marina.

Titel: Marina. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
Vom Netzwerk:
dem Schreibtisch lag ein ledergebundenes, in der Mitte aufgeschlagenes Buch. Unter einem eingeklebten alten Sepiafoto war in Schönschrift zu lesen: »Arles, 1903.« Das Bild zeigte ein am Oberkörper zusammengewachsenes siamesisches Zwillingspaar. In festlichen Kleidern steckend, zeigten die beiden Schwesterchen der Kamera das traurigste Lächeln der Welt.
    Marina blätterte weiter. Es war ein ganz normales altes Fotoalbum. Doch die darin enthaltenen Bilder waren alles andere als normal. Dasjenige der Zwillinge war nur ein Vorbote gewesen. Marina blätterte Seite um Seite weiter und betrachtete die Fotografien mit einer Mischung aus Faszination und Widerwillen. Ich warf einen Blick darauf und verspürte ein seltsames Kribbeln in der Wirbelsäule.
    »Abnormitäten der Natur«, murmelte sie. »Geschöpfe mit Missbildungen, die früher in die Zirkusse abgeschoben wurden.«
    Die verwirrende Macht dieser Bilder traf mich wie ein Peitschenhieb. Die dunkle Seite der Natur zeigte ihr ungeheuerliches Gesicht. Unschuldige Seelen, gefangen in entsetzlich verunstalteten Körpern. Minutenlang blätterten wir uns schweigend durch das Album. Eines ums andere zeigten uns die Fotos, ich sage es ungern, albtraumhafte Geschöpfe. Die körperlichen Gräuel vermochten indessen die Blicke der Trostlosigkeit, des Entsetzens und der Einsamkeit nicht zu verschleiern, die in diesen Gesichtern glühten.
    »Mein Gott …«, flüsterte Marina.
    Die Fotos waren datiert, nannten Jahr und Herkunft: Buenos Aires 1893, Bombay 1911, Turin 1930, Prag 1933 … Ich konnte mir nur schwer ausmalen, wer zu welchem Zweck eine solche Sammlung angelegt haben mochte. Einen Katalog der Hölle. Schließlich wandte Marina den Blick ab und tat ein paar Schritte in die Schatten. Ich wollte ihr folgen, war aber außerstande, mich von dem Schmerz und Schrecken zu lösen, die von diesen Bildern ausgingen. Ich könnte tausend Jahre leben und würde mich bis an mein Ende an den Blick jedes Einzelnen dieser Unglücklichen erinnern. Dann klappte ich das Buch zu und sah mich nach Marina um. Ich hörte sie im Dunkeln seufzen und fühlte mich unbedeutend, wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte. Diese Bilder hatten auch sie zutiefst aufgewühlt.
    »Geht’s dir gut?«, fragte ich.
    Sie nickte wortlos, die Augen fast ganz geschlossen. Da, plötzlich ein Geräusch. Ich starrte in die Schattendecke um uns herum. Wieder hörte ich dieses nicht einzuordnende Geräusch. Feindlich. Unheilvoll. Da nahm ich einen fauligen Gestank wahr, ekelhaft und durchdringend. Er kam aus dem Dunkeln wie der Atem eines wilden Tiers. Ich war mir sicher, dass wir nicht allein waren. Da war noch jemand, der uns beobachtete. Wie versteinert schaute Marina in die Mauer aus Schwärze. Ich nahm sie bei der Hand und führte sie zum Ausgang.

6
    D er Nieselregen hatte die Straßen in Silber gekleidet, als wir wieder hinauskamen. Es war ein Uhr mittags. Wortlos legten wir den Heimweg zurück. Bei Marina würde uns Germán zum Essen erwarten.
    »Bitte erzähl ihm nichts von alledem«, bat mich Marina.
    »Keine Sorge.«
    Ich hätte auch gar nicht genau erklären können, was da geschehen war. Je weiter wir uns von diesem Ort entfernten, desto mehr verflüchtigten sich die Bilder und die Erinnerung an das düstere Gewächshaus. Als wir zur Plaza de Sarriá gelangten, bemerkte ich, dass Marina blass war und schwer atmete.
    »Alles in Ordnung?«, fragte ich.
    Ohne große Überzeugung nickte sie. Wir setzten uns auf eine Bank auf dem Platz. Die Augen geschlossen, atmete sie mehrmals tief durch. Ein Schwarm Tauben wuselte zu unseren Füßen. Einen Moment lang befürchtete ich, Marina werde ohnmächtig. Da öffnete sie die Augen und lächelte mich an.
    »Du brauchst keine Angst zu haben, es ist nur eine leichte Übelkeit. Das muss dieser Geruch gewesen sein.«
    »Bestimmt. Wahrscheinlich ein totes Tier, eine Ratte oder …«
    Sie teilte meine Vermutung. Kurz darauf kehrte die Farbe auf ihre Wangen zurück.
    »Jetzt muss ich was in den Magen kriegen. Komm, gehen wir. Germán wird das Warten schon satthaben.«
    Wir standen auf und marschierten zu ihr nach Hause. Am Gittertor stand Kafka. Mit einem verächtlichen Blick für mich lief er zu Marina und rieb seinen Rücken an ihren Knöcheln. Ich sann eben über die Vorteile des Katzendaseins nach, als ich wieder diese himmlische Stimme aus Germáns Grammophon vernahm. Die Musik überflutete den Garten.
    »Was ist das für eine Musik?«
    »Léo Delibes.«
    »Keine

Weitere Kostenlose Bücher