Marina.
draußen.
Das Zimmer war ein langes Rechteck, in dem sich das Licht verflüchtigte, noch ehe es den Boden berührte. Vor den Fenstern zog sich die Avenida Gaudí in die Ewigkeit. Die Türme der Sagrada-Familia-Kirche halbierten den Himmel. Vier durch raue Vorhänge abgetrennte Betten standen im Raum. Durch die Vorhänge hindurch sah man die Silhouetten der anderen Besucher, wie in einem chinesischen Schattenspiel. Marina lag im hintersten Bett rechts, neben dem Fenster.
In diesen ersten Momenten ihrem Blick standzuhalten war das Schwierigste. Man hatte ihr das Haar wie einem Jungen gestutzt. Ohne ihre langen Haare kam sie mir erniedrigt, entblößt vor. Ich biss mir mit aller Kraft auf die Zunge, um die mir aus der Seele aufsteigenden Tränen zurückzudämmen.
»Sie mussten sie mir abschneiden«, sagte sie hellseherisch. »Wegen der Tests.«
An ihrem Hals und Nacken sah ich Male, die beim bloßen Anblick Schmerzen verursachten. Mit einem angestrengten Lächeln reichte ich ihr das Paket.
»Mir gefällt es«, sagte ich zum Gruß.
Sie nahm es entgegen und legte es sich auf den Schoß. Ich trat näher und setzte mich schweigend zu ihr. Sie ergriff meine Hand und drückte sie kräftig. Sie hatte Gewicht verloren. Unter dem weißen Krankenhausnachthemd konnte man die Rippen erkennen. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen. Die Lippen waren zwei dünne ausgetrocknete Linien. Die aschfarbenen Augen hatten ihren Glanz verloren. Mit unsicheren Händen nestelte sie das Paket auf und zog ein Buch heraus. Sie blätterte es durch und schaute neugierig auf.
»Alle Seiten sind weiß …«
»Im Moment noch. Wir haben eine gute Geschichte zu erzählen, und ich trage den Wälzer dazu bei.«
Sie drückte das Buch an die Brust.
»Was hast du für einen Eindruck von Germán?«
»Einen guten«, log ich. »Müde, aber gut.«
»Und du, wie geht es dir?«
»Mir?«
»Nein, mir. Wem denn wohl?«
»Mir geht es gut.«
»Mhm, vor allem nach dem Sermon von Sergeant Rojas.«
Ich hob die Brauen, als hätte ich nicht die geringste Ahnung, wovon sie sprach.
»Ich habe dich vermisst«, sagte sie.
»Ich dich auch.«
Unsere Worte blieben in der Luft hängen. Lange schauten wir uns schweigend an. Ich sah, wie ihre Fassade allmählich bröckelte.
»Du hast alles Recht, mich zu hassen«, sagte sie da.
»Dich zu hassen? Warum sollte ich dich hassen?«
»Ich habe dich angelogen. Als du kamst, um Germán seine Uhr zurückzubringen, wusste ich schon, dass ich krank war. Ich war egoistisch, ich wollte einen Freund haben …, und ich glaube, wir haben uns unterwegs verloren.«
Ich schaute zum Fenster.
»Nein, ich hasse dich nicht.«
Wieder drückte sie meine Hand. Sie richtete sich auf und umarmte mich.
»Danke, dass du der beste Freund bist, den ich je gehabt habe«, raunte sie mir ins Ohr.
Ich spürte, dass mir der Atem stockte. Ich wollte bloß noch davonlaufen. Marina drückte mich kräftig, und mit einem Gebet flehte ich darum, sie möge meine Tränen nicht bemerken. Dr. Rojas würde mir die Lizenz entziehen.
»Wenn du mich nur ein bisschen hasst, wird es Dr. Rojas nicht stören. Sicherlich ist das gut für die weißen Blutkörperchen oder so.«
»Dann also nur ein bisschen.«
»Danke.«
27
I n den darauffolgenden Wochen wurde Germán Blau mein bester Freund. Sowie um halb fünf Uhr der Unterricht aus war, flog ich zu dem alten Maler. Mit dem Taxi fuhren wir zum Krankenhaus, wo wir den restlichen Nachmittag bei Marina verbrachten, bis uns die Schwestern hinauswarfen. Auf diesen Fahrten von Sarriá zur Avenida de Gaudí lernte ich, dass Barcelona im Winter die tristeste Stadt der Welt sein kann. Germáns Geschichten und Erinnerungen wurden zu meinen eigenen.
In den langen Wartezeiten auf den trostlosen Krankenhausfluren gestand mir Germán Vertraulichkeiten, die er außer mit seiner Frau mit niemandem geteilt hatte. Er erzählte mir von den Jahren bei seinem Lehrer Salvat, von seiner Ehe und wie einzig Marinas Gesellschaft ihm nach dem Tod seiner Frau das Überleben ermöglicht hatte. Er sprach über seine Zweifel und Ängste und darüber, wie ihn ein ganzes Leben gelehrt hatte, dass alles, was er für sicher gehalten hatte, reine Illusion war, und dass es zu viele Lektionen gab, die zu lernen es sich nicht lohne. Auch ich sprach zum ersten Mal ohne Hemmungen mit ihm, sprach über Marina, von meinen Träumen als Architekt in spe an Tagen, an denen ich aufgehört hatte, an die Zukunft zu glauben. Ich erzählte von meiner
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