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Marina.

Marina.

Titel: Marina. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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wirklich wollte. Die Nächte verbrachte ich schlaflos, indem ich die Teile der Geschichte neu zusammensetzte, die wir erlebt hatten. Ich versuchte, das Gespenst von Kolwenik und Ewa Irinowa aus meinem Gedächtnis zu verbannen. Mehr als einmal dachte ich daran, den alten Dr. Shelley aufzusuchen und ihm zu erzählen, was geschehen war. Doch es fehlte mir der Mut, vor ihn hinzutreten und ihm zu berichten, wie ich die Frau, die er als seine eigene Tochter großgezogen hatte, hatte sterben oder seinen besten Freund hatte brennen sehen.
    Am letzten Tag des Jahres gefror der Brunnen im Garten. Ich fürchtete mich vor dem Ende meiner Tage mit Marina. Bald würde ich wieder ins Internat zurückkehren müssen. Den Silvesterabend verbrachten wir im Kerzenlicht und hörten die fernen Glockenschläge der Kirche auf der Plaza de Sarriá. Draußen schneite es weiter, und ich hatte den Eindruck, die Sterne seien ohne Vorankündigung vom Himmel gefallen. Um Mitternacht stießen wir flüsternd an. Ich suchte Marinas Augen, doch ihr Gesicht zog sich ins Halbdunkel zurück. In dieser Nacht versuchte ich herauszufinden, was ich getan oder gesagt haben mochte, um eine solche Behandlung zu verdienen. Im anliegenden Zimmer konnte ich ihre Gegenwart erfühlen. Ich stellte mir vor, wie sie wach dalag, eine Insel, die in der Strömung davonschwamm. Ich klopfte an die Wand, rief – umsonst, ich bekam keine Antwort.
    Ich kramte meine Siebensachen zusammen und schrieb eine Notiz. Darin verabschiedete ich mich von Germán und Marina und bedankte mich für ihre Gastfreundschaft. Aus Gründen, die ich mir nicht zu erklären vermochte, war etwas zerbrochen, und ich fühlte mich an diesem Ort überzählig. Am frühen Morgen legte ich den Zettel auf den Küchentisch und machte mich auf zum Internat. Als ich davonging, war ich sicher, dass mich Marina von ihrem Fenster aus beobachtete. Ich winkte zum Abschied, in der Hoffnung, sie sähe mich. In den menschenleeren Straßen hinterließen meine Schritte Spuren im Schnee.
     
     
    Noch fehlten einige Tage, bis die übrigen Kameraden zurückkamen. Die Zimmer im vierten Stock waren Höhlen der Einsamkeit. Als ich auspackte, stattete mir Pater Seguí einen Besuch ab. Ich begrüßte ihn mit formeller Höflichkeit und räumte weiter meine Kleider ein.
    »Seltsame Menschen, diese Schweizer«, sagte er. »Während alle anderen ihre Sünden verbergen, packen sie sie mit Schnaps und einer Schleife in Silberpapier und lassen sie sich mit Gold aufwiegen. Der Präfekt hat mir aus Zürich eine riesige Schachtel Pralinen geschickt, und hier gibt es niemanden, mit dem ich sie teilen kann. Jemand wird mir helfen müssen, bevor Doña Paula sie entdeckt.«
    »Sie können auf mich zählen«, sagte ich ohne große Überzeugung.
    Seguí trat ans Fenster und schaute auf die Stadt zu unseren Füßen hinunter, eine Fata Morgana. Dann wandte er sich um und sah mich an, als könnte er meine Gedanken lesen.
    »Ein guter Freund hat einmal zu mir gesagt, die Probleme seien wie Kakerlaken.« Immer wenn er ernst sein wollte, verfiel er in einen scherzhaften Ton. »Wenn man sie ans Licht holt, erschrecken sie und machen sich auf und davon.«
    »Das muss ein weiser Freund gewesen sein«, antwortete ich.
    »Nein. Aber er war ein guter Mensch. Frohes neues Jahr, Óscar.«
    »Frohes neues Jahr, Pater.«
     
     
    In den Tagen bis zum Unterrichtsbeginn verließ ich mein Zimmer nur selten. Ich versuchte zu lesen, doch die Worte entflogen den Seiten. Die Stunden vergingen, während ich am Fenster Germáns und Marinas altes Haus in der Ferne betrachtete. Tausendmal wollte ich dahin zurück, und ein paarmal wagte ich mich tatsächlich bis zur Mündung des Sträßchens vor, das zu ihrem Tor führte. Germáns Grammophon war nicht mehr zwischen den Bäumen hindurch zu hören, nur der Wind in den kahlen Ästen. Nachts durchlebte ich immer wieder die Ereignisse der vergangenen Wochen, bis ich erschöpft in einen fieberhaften, erstickenden Schlaf ohne Erholung fiel.
    Eine Woche später begann der Unterricht. Es waren bleierne Tage, die Fenster beschlagen, die Radiatoren im Halbdunkel tropfend. Meine alten Kameraden und ihr Geschnatter waren mir fremd. Geschwätz von Geschenken, Festtagen und Erinnerungen, das ich weder teilen konnte noch wollte. Die Stimmen meiner Lehrer entzogen sich mir. Es gelang mir nicht, herauszufinden, welche Bedeutung Humes Elaborate hatten oder was die Gleichungen mit mehreren Unbekannten dazu beitragen konnten, das Rad der

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