Mario und der Zauberer
Glück und Illusion sich dem Gefühle aufdrängten, war, nicht gleich am Anfang, aber sogleich nach der traurigen und skurrilen Vereinigung von Marios Lippen mit dem abscheulichen Fleisch, das sich seiner Zärtlichkeit unterschob, das Lachen des Giovanotto zu unserer Linken, das sich einzeln aus der Erwartung löste, brutal, schadenfroh und dennoch, ich hätte mich sehr täuschen müssen, nicht ohne einen Unterton und Einschlag von Erbarmen mit so viel verträumtem Nachteil, nicht ganz ohne das Mitklingen jenes Rufes »Poveretto!«, den der Zauberer vorhin für falsch gerichtet erklärt und für sich selbst in Anspruch genommen hatte.
Zugleich aber auch schon, während noch dies Lachen erklang, ließ der oben Geliebkoste unten, neben dem Stuhlbein, die Reitpeitsche pfeifen, und Mario, geweckt, fuhr auf und zurück. Er stand und starrte, hintübergebogenen Leibes, drückte die Hände an seine mißbrauchten Lippen, eine über der anderen, schlug sich dann mit den Knöcheln beider mehrmals gegen die Schläfen, machte kehrt und stürzte, während der Saal applaudierte und Cipolla, die Hände im Schoß gefaltet, mit den Schultern lachte, die Stufen hinunter. Unten, in voller Fahrt, warf er sich mit auseinandergerissenen Beinen herum, schleuderte den Arm empor, und zwei flach schmetternde Detonationen durchschlugen Beifall und Gelächter.
Alsbald trat Lautlosigkeit ein. Selbst die Zappler kamen zur Ruhe und glotzten verblüfft. Cipolla war mit einem Satz vom Stuhle aufgesprungen. Er stand da mit abwehrend seitwärtsgestreckten Armen, als wollte er rufen: »Halt! Still! Alles weg von mir! Was ist das?!« sackte im nächsten Augenblick mit auf die Brust kugelndem Kopf auf den Sitz zurück und fiel im übernächsten seitlich davon herunter, zu Boden, wo er liegen blieb, reglos, ein durcheinandergeworfenes Bündel Kleider und schiefer Knochen.
Der Tumult war grenzenlos. Damen verbargen in Zuckungen das Gesicht an der Brust ihrer Begleiter. Man rief nach einem Arzt, nach der Polizei. Man stürmte das Podium. Man warf sich im Gedränge auf Mario, um ihn zu entwaffnen, ihm die kleine, stumpfmetallne, kaum pistolenförmige Maschinerie zu entwinden, die ihm in der Hand hing, und deren fast nicht vorhandenen Lauf das Schicksal in so unvorhergesehene und fremde Richtung gelenkt hatte. Wir nahmen – nun also doch – die Kinder und zogen sie an dem einschreitenden Carabinierepaar vorüber gegen den Ausgang. »War das auch das Ende?« wollten sie wissen, um sicher zu gehen … »Ja, das war das Ende«, bestätigten wir ihnen. Ein Ende mit Schrecken, ein höchst fatales Ende.
Und ein befreiendes Ende dennoch, – ich konnte und kann nicht umhin, es so zu empfinden!
ANMERKUNGEN
Seite 3 Capannen , Badehütten
Seite 4 Pineta , Pinienhain
Cornetti al burro , Butterhörnchen, Kipfel
Seite 6 Pranzo , Hauptmahlzeit, in Italien meist erst gegen Abend eingenommen
Seite 10 Rispondi al mèno! Antworte wenigstens!
Seite 13 Schniepel , Frack
Seite 14 Municipio , Rathaus
Seite 16 Forzatore , Kraftmensch, der öffentlich Kunststücke vorführt
Prestidigatore , Taschenspieler, Gaukler
Seite 18 Frutti di mare , Meeresfrüchte (Muscheln, Seerosen usw.)
Seite 19 Pronti! Wir sind bereit! Cominciamo! Anfangen!
Seite 22 Buona sera! Guten Abend!
Paura , Angst
Ha sciolto lo scilinguagnolo , er hat ein gutes Mundwerk Giovanotto , junger Mann
sa’-sai , du weißt
Seite 25 Donnaiuolo , Weiberheld, Mädchenjäger
Parla benissimo , er redet ausgezeichnet
Seite 28 Non so scrivere , ich kann nicht schreiben
Seite 36 E servito , Zu Ihren Diensten!
lavora bene , er arbeitet gut
Seite 43 Biscotto , Zwieback
Subito! Sofort!
Seite 47 Accidente! Zum Teufel!
Seite 49 Balla! Tanze!
Seite 50 Una ballatina , ein Tänzchen
Seite 53 Ragazzo mio! Mein Junge!
NACHWORT
Die 1930 erschienene Novelle »Mario und der Zauberer« steht in mehr als einer Beziehung in der Mitte von Thomas Manns Lebenswerk. Von den großen Romanen liegt »Der Zauberberg« sechs Jahre zurück, jene tiefbeunruhigende Zeitanalyse, die die erste Hälfte von des Dichters Schaffen abschloß, die Werke der Bestandsaufnahme »seiner Zeit«.
Diese Epoche umfaßt außer dem »Zauberberg« die »Buddenbrooks« (1901), gleichsam den Abschied vom »großen neunzehnten Jahrhundert«, dessen Sohn zu sein sich Thomas Mann immer gerühmt hat, ferner
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