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Mark Brandis - Testakte Kolibri

Mark Brandis - Testakte Kolibri

Titel: Mark Brandis - Testakte Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Brandis
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Kommen!«
    »Roger, Neun . Ich möchte Ihnen da nicht dreinreden – aber vielleicht sollten Sie jetzt abbrechen. Kommen!«
    Die verzerrten, unpersönlichen Laute im Lautsprecher waren auf einmal zu einer menschlichen Stimme geworden, in der ich so etwas wie Sorge und Anteilnahme zu erkennen glaubte. Sonderbar, wie ich das hatte vergessen können: In diesem Augenblick konzentrierten alle am Kolibri -Projekt beteiligten Piloten, Controller und Techniker ihre Gedanken auf mich und meinen Flug.
    Jetzt war ich für sie auch nicht der Projektleiter, sondern ein Testpilot wie sie auch, der einen freundschaftlichen Rat erhalten durfte.
    Das Wort des Controllers hatte etwas Verlockendes an sich. Bisher war alles gut gegangen – und wenn ich den Tauchvorgang an dieser Stelle abbrach, konnte ich in einer knappen Viertelstunde im Kasino sitzen. Aber es durfte nicht sein. Testprogramme wurden nicht aufgestellt, um im nachhinein von den Piloten nach Belieben abgeändert zu werden.
    » Kolibri -Tower, ich gehe jetzt auf Maximaltiefe. Ich zünde. Das Triebwerk läuft. Alle Anzeigen sind weiterhin normal. Ende.«
    »Roger, Neun . Ich erwarte Ihre nächste Meldung aus Tiefe Zwo-Fünf.«
    Diesmal achtete ich darauf, daß die Sinkgeschwindigkeit langsam blieb. Vorsichtig, behutsam, einem Jäger vergleichbar, der sein Wild anschleicht, pirschte ich mich an die Grenze der zulässigen Belastung heran.
    2100
    2200
    2300
    Kein qualvolles Stöhnen in den Verbänden, kein verräterisches Knacken. Man hatte sich von diesem Schiff nicht zu viel versprochen. Es operierte unter Wasser mit der gleichen Sicherheit und Wendigkeit wie im Raum.
    2400
    2500
    Der Kolibri lag auf Horizontalkurs. Zum drittenmal, seitdem ich mich damit unter Wasser befand, stellte ich das Triebwerk ab.
    Der Kolibri glitt aus. Eine Weile noch verharrte er in der von mir eingesteuerten Tiefe, dann begann er langsam, fast unmerklich, die Nase dem Meeresboden entgegenzuneigen und weiterzusinken.
    » Neun ist jetzt auf Zwo-Fünf, Kolibri -Tower. Das Triebwerk ist gestoppt. Alle Anzeigen normal. Kommen!«
    »Roger, Neun . Gibt es irgendwelche Schwierigkeiten? Kommen!«
    »Keinerlei Schwierigkeiten, Kolibri -Tower. Das Verhalten des Schiffes ist völlig korrekt. Die augenblickliche Sinkgeschwindigkeit beträgt fünfzig Meter pro Minute. Ich zünde jetzt zum Rückstart und melde mich wieder aus freiem Flug. Ende.«
    »Roger, Neun . Sie starten und melden sich wieder.«
    Ich weiß nicht, wieso und warum mich in diesem Augenblick, als meine Hand bereits auf dem Regler lag und ihn umschloß, die Angst ansprang. Ich mußte plötzlich an alle meine Vorgänger denken, deren letzte Worte ähnlich geklungen haben mußten wie die meinen; Baklanow war mir eingefallen, der letzte unter ihnen, den es von hier aus hinausgetragen hatte in die Ewigkeit. In kalten Schweiß gebadet, am ganzen Körper zitternd, war ich unfähig, auch nur einen Finger zu rühren. Was, wenn das Triebwerk nicht ansprang? Meine Hand auf dem Regler war schwer wie Blei. Ich wußte, daß es höchste Zeit war zu zünden, und brachte es gleichwohl nicht über mich. Je länger ich es hinauszögerte, desto länger währte meine Gnadenfrist.
    Von allen Augenblicken der Gefahr, die sich, wenn ich auf meine Laufbahn zurücksehe, aneinanderreihen wie Perlen auf einer Schnur, war dies gewiß einer der heikelsten. Nicht irgendein Mechanismus hatte versagt. Ich selbst war ausgefallen.
    2600
    2700
    Ein kaum merkliches Seufzen ging durch das Schiff. Es hatte begonnen, unter dem Druck der großen Tiefe zu leiden.
    Noch länger zu warten war unverantwortlich. Mochte es also zur Gewißheit werden, was ich erahnte. Mein Finger fand den roten Knopf und drückte.
    Das Triebwerk sprang an. Das Laufband des Schubmessers zeigte Schwarz .
    Der Würgegriff, in dem ich mich verfangen hatte, lockerte sich. Auf einmal war ich wieder Herr meiner selbst: fähig zu denken, fähig zu handeln. Die Krise war überstanden.
    Ich zog die Nase des Kolibri in die Höhe und begann mit dem Steigen. Aus der ewigen Dunkelheit schoß ich dem hellen Licht eines sonnigen Tages entgegen. Das erste war nur ein trüber, milchiger Schein vor den Bullaugen, der meine Heimkehr in die Welt der Menschen ankündigte – doch dann, fast übergangslos, fiel das Licht ungemildert über mich her, und ich begriff, daß ich den gläsernen Spiegel zum zweitenmal durchbrochen hatte. Das nasse Element hatte mich freigegeben. Mühelos stürmte der Kolibri dem tropenblauen Himmel

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