Wenn die Liebe erwacht
1. KAPITEL
England, 1176
Sir Guibert Fitzalan lehnte sich an den dicken Baumstamm zurück und sah den beiden Dienstmädchen zu, die die Überreste des mitgebrachten Mittagessens einpackten. Da sich sein Aussehen in Maßen hielt, war er ein bescheidener Mann, und Frauen, sogar die Mädchen seiner Lehnsherrin, brachten ihn aus der Fassung. Wilda, das jüngere der beiden Dienstmädchen, sah ihm einen Moment ins Auge. Ihr kühner Blick brachte ihn dazu, sich eilig abzuwenden, und sein Gesicht war glühend heiß.
Der Frühling stand in voller Blüte, und Wilda war nicht die einzige Frau, die Sir Guibert anerkennende Blicke zuwarf. Er war aber auch nicht der einzige Mann, dem sie ihre glühenden Blicke zuwandte. Wilda war entschieden hübsch. Sie hatte eine schmale, kleine Nase und rosige Wangen. Ihr Haar hatte ein schimmerndes Kastanienbraun, und sie war mit einem prachtvollen Körper gesegnet.
Dennoch war Sir Guibert ein überzeugter Junggeselle. Davon abgesehen war Wilda für einen Mann von fünfundvierzig Jahren zu jung. Schließlich war sie genauso alt wie Lady Leonie, der sie beide dienten, und diese junge Dame war ganze neunzehn Jahre alt.
Sir Guibert sah Leonie von Montwyn als eine Art Tochter an. In dem Moment, in dem er beobachtete, daß sie das Weideland verließ, auf dem sie begonnen hatte, Frühlingskräuter zu pflücken, und in den Wald verschwand, schickte er vier seiner Krieger hinter ihr her, die ihr in einem unauffälligen Abstand folgen sollten. Er hatte zehn Männer zu ihrem Schutz mitgebracht, und die Soldaten wußten, daß es wenig Sinn hatte, über diesen Auftrag zu murren, obwohl es nicht gerade eine ihrer Lieblingsaufgaben war. Leonie bat sie oft, Pflanzen, die sie ihnen zeigte, zu pflücken. Das Sammeln von Kräutern war kein Zeitvertreib für einen Mann.
Bis zu diesem Frühjahr hatten drei Wochen ausgereicht, um Lady Leonie zu begleiten, doch jetzt hatte Crewel einen neuen Bewohner, in dessen Wälder Leonie eindrang, um Kräuter zu suchen. Der neue Herr aller Ländereien von Kempston bereitete Sir Guibert große Sorgen.
Guibert hatte den früheren Lehnsherrn von Kempston, Sir Edmond Montigny, nie gemocht, aber zumindest hatte der alte Baron keinen Ärger gemacht. Der neue Lehnsherr von Kempston brachte endlose Klagen gegen die Leibeigenen von Pershwick vor, und das von dem Moment an, als er sich des Bergfrieds Crewel bemächtigt hatte. Es nutzte nichts, daß die Klagen stichhaltig waren. Das Schlimmste war, das Lady Leonie sich persönlich für die Missetaten ihrer Leibeigenen verantwortlich fühlte.
»Lassen Sie mich das in die Hand nehmen, Sir Guibert«, hatte sie ihn gebeten, als ihr die Klagen erstmals zu Ohren gekommen waren. »Ich fürchte, die Leibeigenen glauben, sie täten mir einen Gefallen, wenn sie in Crewel Unheil stiften.«
Um es ihm zu erklären, gestand sie: »Ich war an dem Tag, an dem Alain Montigny kam, um mir zu erzählen, was seinem Vater und ihm zugestoßen ist, im Dorf. Zu viele der Leibeigenen haben gesehen, wie erzürnt ich war, und ich fürchte, sie haben gehört, daß ich dem Schwarzen Wolf, der jetzt in Crewel herrscht, die Blattern gewünscht habe.«
Guibert fiel es schwer zu glauben, Leonie könne jemanden verfluchen. Sie war zu gütig, zu freundlich und zu schnell bei der Hand, wenn es darum ging, ein Übel zu beheben oder eine Last zu lindern. Aber in Sir Guiberts Augen konnte sie überhaupt nichts Böses tun. Er war in sie vernarrt und verhätschelte sie. Und er fragte sich, wer sie verwöhnt hätte, wenn nicht er? Gewiß nicht ihr Vater, der sie vor sechs Jahren, als ihre Mutter gestorben war, gemeinsam mit Beatrix, der Schwester ihrer Mutter, nach Pershwick verbannt hatte, weil ihm der Anblick eines jeden Menschen unerträglich war, der ihn an seine geliebte Frau erinnerte.
Guibert konnte das Vorgehen dieses Mannes nicht begreifen, aber schließlich hatte er Sir William von Montwyn nicht allzu gut gekannt, obwohl er als ein Teil der Mitgift von Lady Elisabeth in seinen Haushalt eingezogen war, als sie Sir William geheiratet hatte. Lady Elisabeth, der Tochter eines Earl und dem fünften und jüngsten der Kinder ihres Vaters, war eine Liebesheirat zugestanden worden. Der Mann war ihr keineswegs ebenbürtig, doch Sir William liebte sie – vielleicht sogar zu sehr. Ihr Tod war für ihn vernichtend gewesen, und allem Anschein nach konnte er die Gegenwart seines einzigen Kindes nicht ertragen. Leonie war so klein und zart und hellhäutig wie Elisabeth und
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