Marshall McLuhan
Der Seher
Wir schreiben das Jahr 1980, es ist Frühling. Ein Mann liegt auf einer Couch im kühlen, dunklen Büro eines Tudor-Hauses in einer ruhigen Wohngegend am Stadtrand von Toronto, Ontario. Er ist fast siebzig Jahre alt. Er ist Linkshänder und heterosexuell. Er starrt an die Decke. Er ist weiß. Er trägt einen Pullover über einem Hemd mit Button-down-Kragen. Sein Name ist Marshall. Es ist schwer zu sagen, was Marshall durch den Kopf geht, denn mit ihm ist etwas geschehen. Er kann nicht mehr sprechen. Er kann nicht mehr lesen. Er kann nicht mehr schreiben. Das geht jetzt seit einem halben Jahr so, seit seinem Schlaganfall. Komischerweise versteht er sehr gut, was andere Menschen zu ihm sagen – er kann nur selbst keine Worte mehr bilden. Er kann Radio hören und fernsehen, und er versteht auch, was die Leute erzählen, aber sobald die Stimmen weg bleiben, sind auch die Worte in seinem Kopf weg. Was ist mit der Stimme in seinem Kopf – ist sie tot? Kann die innere Stimme überhaupt sterben? Und wenn ja, wie würde dieses Verstummen klingen? Wie hört es sich an, wenn keine Stimmen mehr da sind?
Marshall sieht eine Biene, die sich ins Zimmer verirrt hat und immer wieder gegen die Fensterscheibe fliegt.
Tappa-tappa-bzzzt, tappa-tappa-bzzzt
… Er steht auf, öffnet das Fenster und befreit die Biene, und während er das tut, sagt er
boy-oh-boy-oh-boy
– die beiden Wörter, die ihm nach diesem bösen Affront gegen sein Gehirn letzten Herbst noch geblieben sind, die Wörter, die er sagt, wenn er mit irgendetwas einverstanden ist. Die Luft draußen riecht nach gemähtem Gras und Pollen. In der Ferne bellt ein Hund. Marshall sieht sich in seinem Zimmer um: Auf den meisten Flächen stapeln sich wild durcheinander Bücher, es sieht fast so aus wie die Karikatur des Büros eines Uni-Profs. Es macht Marshall wahnsinnig, seine Bücher zu sehen und selbst nicht mal das Wort
Buch
aussprechen zu können. Er weiß, dass diese Bücher und Papiere sein Leben bedeuten.
Und dann plötzlich passiert etwas. In einem anderen Zimmer läuft im Radio ein protestantisches Kirchenlied, und obwohl er seit zweiundvierzig Jahren leidenschaftlicher Katholik ist, fängt er an, lauthals mitzusingen. Doch dann ist das Lied zu Ende und mit ihm Marshalls Gesang. Er kehrt zurück in die Welt der Geräusche und betrachtet weiter seine Bücher, von denen er viele selbst geschrieben hat und die er deswegen an ihrer Form und Farbe erkennt, nicht aber an ihren Titeln. Das Leben ist grausam und demütigend. Marshall weiß, dass er mal als einer der besten Redner der Welt galt. Er weiß, dass früher seine Ideen die Art, wie die Menschen die Welt und das Leben sahen, veränderten, und heute gibt er nur noch Geräusche von sich. Und er weiß, dass er mit Worten gespielt hat wie ein Gott. Dass er ein Meister der Anagramme und Doppeldeutigkeiten war und dass die Kernthemen seines Lebens sich darum drehten, wie wir miteinander kommunizieren, von Mensch zu Mensch, von Generation zu Generation, von einem Jahrhundert zum nächsten. Er weiß, dass er die Zukunft der Zukunft gesehen hat. Er weiß, dass er weltberühmt und weltweit beschimpft worden war, und jetzt kann er nicht mal mehr zu einer blöden
Biene
vernünftig Auf Wiedersehen und Alles Gute sagen.
Zeitweh
Wer eine Biographie schreibt, muss sich unter anderem fragen, warum sich jemand für die porträtierte Person interessieren sollte. 1989 erschien eine großartige Biographie über Herbert Marshall McLuhan und 1997 noch eine, genauso toll. Während dieser Jahre war Marshall in erster Linie ein kluger Kopf für ein kleines, aber feines Publikum, dessen Denkmuster ungefähr seinem entsprach – Akademiker und Leute, die beruflich auf irgendeine Weise mit Medien zu tun hatten.
Aber um 2003 herum veränderte sich die Struktur des Alltagslebensinnerhalb der von den Medien beeinflussten westlichen Gesellschaften, und zwar so rasant, dass ein halbes Jahrzehnt später jedem, der im 20. Jahrhundert geboren wurde, klar ist, dass die Zeit nicht nur ganz offensichtlich schneller vergeht, sondern sich auch irgendwie
komisch
anfühlt. Jegliche Art von Warten wird nicht mehr toleriert. Wir wollen sämtliche Fakten und zwar sofort. Achtundvierzig Stunden ohne E-Mail können einen Nervenzusammenbruch auslösen. Wer auch nur ein einziges Mal das Tempo drosselt, ist zur Bedeutungslosigkeit verdammt. Musik spielt heute eine größere Rolle, weil sie eine Konstante darstellt. Klassentreffen sind langweilig, weil
Weitere Kostenlose Bücher