Mark
band er seine Turnschuhe zu. Es war acht Uhr
morgens. Der Rasen war noch feucht vom nächtlichen Regen. Er schloss die Tür
und lief los. Seit drei Tagen lief er jeden Morgen einmal durch die Siedlung,
dann über Feldwege zum kleinen Badesee, manchmal auch durch den Wald. Nachdem
er das Haus in den ersten Tagen seines Hausarrestes gar nicht verlassen hatte,
war der Bewegungsmangel unerträglich geworden, und so nahm er es in Kauf, so
früh aufzustehen. Einen Nachbarn, der in sein Auto stieg, grüßte Daniel. Sonst
war die Straße leer.
Er war gerade erst bis zur Hälfte der Straße
gekommen, als jemand mit einem Mountainbike an ihm vorbeifuhr. Erst als der
Fahrer anhielt und sich zu ihm umdrehte, fiel es ihm auf. Es war der neue
Nachbar.
„ Hallo“, sagte er, als Daniel ihn
eingeholt hatte und neben ihm stehenblieb. „Du wohnst auch hier, oder?“
„ Ja. Ihr seid gestern eingezogen?“
„ Ich wollte mir erst mal die Gegend
angucken. Mark“, stellte er sich vor und streckte ihm die Hand hin.
„ Daniel.“
„ Weißt du, wo hier ein See ist? Ich
kann mich nicht mehr erinnern.“
„ Warst du schon mal hier?“
„ Als Kind ein paar Mal, als ich
meine Großtante besucht habe. Sie hat uns das Haus verkauft.“
„ Ja, es ist nicht so weit zum See.
Ich könnte es dir zeigen.“ Daniel biss sich auf die Lippe. Was erhoffte er sich
denn davon? Sonst ging er selten auf andere Menschen zu, aber durch den
Hausarrest war ihm jede Gesellschaft eine willkommene Abwechslung.
„ Ja, das wäre nett.“
„ Ich hole nur mein Fahrrad.“ Als er
zurücklief, durchströmte ihn eine freudige Erwartung, sie steigerte sich zu
einer überschwänglichen Aufgeregtheit, die er als ganz und gar unangebracht
abtat.
Auf dem Weg zeigte er Mark den kleinen Laden und die
Tankstelle, die Kirche und das Gemeindehaus, an welches sich Mark
seltsamerweise noch erinnerte.
„ Bist du schon auf einer Schule
angemeldet?“, fragte Daniel, als sie den langen schmalen Weg zum See
entlangfuhren.
„ Ja. Es gibt nur die eine hier oder?
Kommst du auch in die Zwölfte?“
„ Ja.“
„ Dann haben wir wohl zusammen
Unterricht. Magst du die Schule?“
Daniel überlegte, was er darauf antworten sollte.
Die Schule an sich hasste er. Die meisten Mitschüler interessierten ihn nicht.
Aber es war wohl kein guter Anfang für ein Gespräch, zu offenbaren, dass er
nicht gerade der Beliebteste in der Schule war.
„ Ist in Ordnung.“
Mark erzählte ihm, dass er Geschichte als
Leistungskurs hatte und sich besonders für die römische und die germanischen
Kulturen interessierte. Das kam Daniel etwas seltsam vor, aber er mochte
Menschen mit seltsamen Hobbys. Außerdem spielte Mark Handball und fuhr viel
Mountainbike. Er war der Sohn einer kleinbürgerlichen, spießigen Familie, einer
heilen Familie, dachte Daniel. Er war nett, ohne dass er sich dafür Mühe
gegeben hätte. Er würde Mädchen die Türen aufhalten und älteren Menschen seinen
Platz im Bus anbieten. Vielleicht würde er sogar mit einem aufrichtigen Lächeln
Geld für die Gemeinde sammeln.
Daniel wusste nicht, was er über sich erzählen
sollte, bisher hatte er nur Marks Fragen zur Schule beantwortet; konnte er da
auch Handball spielen, waren die Lehrer in Ordnung? Gab es einen Chor im Ort?
Seine Mutter würde gern in einen eintreten. Mark sprach mit so einer Naivität,
dass Daniel all diese Tatsachen liebenswert fand.
„ Warum bist du mitgekommen, ist es
nicht blöd, so kurz vor dem Abi die Schule zu wechseln?“
„ Ja schon, ich werde meine Freunde
vermissen.“ Er zuckte die Schultern. Einer wie er hatte sicher eine ganze Reihe
von Freunden.
„ Keine Wahl gehabt?“
„ Nicht wirklich.“ Mark grinste.
Sie hatten den See erreicht und ließen ihre Räder
ins taufeuchte Gras fallen. Ein dunstiger Nebel hing über dem Wasser, so dass
das andere Ufer kaum zu sehen war. Früher hatte er nicht gewusst, dass der See
morgens ein anderer war. Jeder würde bei diesem Anblick den Geschichten von
Elfen und Trollen glauben, die im Wald wohnten. Mark sah sich strahlend um, zog
seine Schuhe aus und berührte vorsichtig mit den Zehen das Wasser.
„ Es ist schöner, hier am Abend baden
zu gehen.“ Sehnsuchtsvoll dachte Daniel daran, dass es noch fast zwei Wochen
dauern würde, bis er das wieder tun konnte. „Ich muss jetzt leider zurück“,
sagte er mit einem Blick auf die Uhr.
„ Hast du was vor?“, fragte Mark
überrascht. Daniel seufzte. Er hätte seinen Hausarrest lieber
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