Marlene Suson 1
der vergifteten Milch erzählt hatte. Im Grunde hatte sie nicht wirklich geglaubt, daß die Milch vergiftet war, doch nach all den unerklärlichen Zwischenfällen – die Schüsse und die falschen Briefe – hatte sie beschlossen, lieber vorsichtig zu sein und kein Risiko einzugehen.
„Ein Stallbursche hat mir von den toten Kätzchen und der Milch erzählt.‚ Vorwurfsvoll sah sie Jerome an. „Warum hast
du mir nicht gesagt, daß die Milch die Tierchen umgebracht hat?‚
Jerome fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Rachel hatte sich zwar geschworen, ihm nie zu vergeben, daß er sein Kind verleug- net hatte, doch jetzt wirkte er so bekümmert, daß sie ihm am liebsten das zerzauste Haar aus der Stirn gestrichen hätte.
„Du weißt gar nicht, wie oft ich mich in den letzten Tagen da- für verflucht habe, es dir verschwiegen zu haben. Aber ich wußte doch, wie sehr du die kleinen Kätzchen ins Herz geschlossen hat- test. Ich wollte dir den Kummer ersparen. Du solltest nicht erfah- ren, daß und wie sie gestorben waren. Ich fürchtete, du würdest dir selbst die Schuld geben, weil du mich mit der Milch zu ihnen geschickt hast.‚
Ja, das hätte sie wahrscheinlich getan. Jerome verstand sie of- fenbar besser, als sie gedacht hatte. In diesem Augenblick be- griff Rachel, weshalb Jerome sie damals so überraschend von Wingate Hall weggeholt hatte. „Du hast die toten Kätzchen ge- funden und mich deshalb mit nach Royal Elms genommen, nicht wahr?‚
„Ja. Ich liebte dich damals schon, doch ich wagte nicht, es mir oder gar dir einzugestehen. Ich wußte nur, daß ich dich aus die- sem Haus schaffen mußte, bevor der Mörder sein Werk vollenden konnte.‚ Er schluckte mühsam und streckte wieder die Hand nach ihr aus.
Rachel wich zurück. Er hatte sie zu tief verletzt.
Ein schmerzlicher Ausdruck flog über sein Gesicht. Sie war nicht bereit, ihm zu verzeihen. „Was ... was hast du mit der Milch gemacht, die Sophia dir brachte?‚
„Ich habe sie am äußersten Ende der Terrasse ausgeschüttet. Ich dachte, wenn ich sie stehen ließe und wäre sie wirklich ver- giftet, dann könnte sie womöglich ein anderer trinken.‚ Rachel senkte den Blick auf die Bettdecke. „Dann bin ich ins Kavaliers- haus gegangen. Ich wollte mich hier verstecken, bis ich weiß, wo ich hin soll.‚
„Sophia kann uns nichts mehr anhaben. Sie ist tot.‚
Rachels Kopf fuhr hoch. „Was? Wieso?‚
„Sie ging mit einem Dolch auf mich los, dessen Klinge an der Spitze vergiftet war. In dem Handgemenge hat sie sich selbst verletzt. Das Gift hat sie umgebracht.‚
„O mein Gott!‚ stieß Rachel entsetzt hervor. Sie war sicher ge- wesen, daß ihr Herz sich für immer von ihrem Mann abgewandt
hatte, doch als ihr nun klar wurde, daß Sophia ihn beinahe getötet hätte, spürte sie, daß sie sich geirrt hatte.
„Schau nicht so traurig drein‚, sagte Jerome, der ihren Ge- sichtsausdruck offenbar falsch deutete. „Sophia ist wirklich kein Verlust für die Menschheit. Übrigens habe ich gute Nachrich- ten von Stephen. Du könntest recht haben, daß er noch am Le- ben ist.‚
Rachel stieß einen Freudenschrei aus. Ihre Gebete waren erhört worden!
Als Jerome ihr berichtete, daß das vorbeifahrende Schiff Ste- phen an Bord genommen hatte, rief sie mit überschäumender Freude: „Ich weiß, daß er noch lebt! Ich weiß es ganz genau!‚
„Du solltest deine Hoffnungen nicht zu hoch schrauben, mein Liebling. Wenn er wirklich gerettet wurde und noch am Leben ist, müßte er eigentlich inzwischen längst zu Haus sein.‚ Wieder griff er nach Rachels Hand, doch sie stieß sie weg. „Unglück- licherweise wissen wir nichts über das Schiff, das ihn an Bord nahm. Nur, daß es eine britische Flagge führte.‚
„Ich weiß, daß er noch lebt.‚
„Wenn es so ist, mein Herz, dann finden wir ihn. Wir werden die Suche nach ihm nicht aufgeben, das verspreche ich dir.‚ Je- rome lächelte sie an. „Ich habe noch eine gute Nachricht für dich. George ist zurückgekehrt. Diese Briefe, die er dir angeblich ge- schrieben hat, stammten auch aus Sophias Feder.‚
Mit strahlendem Gesicht fuhr Rachel hoch. „Warum hast du mir das nicht gleich gesagt? Ich kann es nicht erwarten, ihn wie- derzusehen!‚
Als Jerome und Rachel Wingate Hall erreichten, stieß sie die Ein- gangstür auf und stürmte ins Haus. Die nur schwach beleuchtete Marmorhalle war leer, doch ihre lärmende Ankunft lockte George aus der Bibliothek. Als er Rachel sah, blieb er wie
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