Soraja - Im Licht des Mondes
Kapitel 1 Kapitel 1
Die Priesterin
Beißender Gestank zog durch die engen Gassen
der Stadt. Trotz der frühen Stunde bewegte sich eine breite
Menschenmasse durch Pelitona. Eine grau-schwarze Menge, die sich
wie ein Wesen durch die gekalkten Schluchten schob. Der Lärm, der
von diesen Menschen ausging, war ohrenbetäubend. Doch unter diesen
ganzen eintönigen Individuen drängte sich ein einziger Farbfleck
durch die Menge: eine junge Frau in meerblauen Röcken.
Soraja war spät dran für den Markt.
»Komm schon, Quentin! Wir haben es eilig.«
Drängend zupfte die junge Frau an dem braunen Wams ihres
Begleiters.
»Tut mir leid, aber du weißt, dass ich mich
unter so vielen Menschen nicht wohlfühle.« Der leere Blick des
jungen Mannes richtete sich weit in die Ferne, als er seinen
Schritt beschleunigte. Seine Hand griff den Saum des blauen Mieders
fester. Soraja strich sich eine verirrte Locke aus dem Gesicht.
»Das nächste Mal gehen wir einfach früher
los. Dann sind wir auch wieder zu Hause, wenn sich der Rest der
Stadt in Richtung Markt schiebt.« Quentins sanfte Stimme bewirkte
bei Soraja ein kaum zu erkennendes Lächeln. Sie konnte sich nicht
dagegen wehren, er brachte sie immer wieder dazu – auch wenn er das
nicht sehen konnte. Denn Quentin war von Geburt an blind.
Soraja konnte mit ihm fühlen. Denn hin und
wieder war es besser, nicht alles mit ansehen zu müssen – vor allem
nicht mit ihren Augen.
»Komm jetzt! Katara wartet schon auf uns.« Soraja
schob den leeren Weidenkorb etwas höher auf ihre Schulter und
umfasste Quentins Hand. Gemeinsam zwängten sie sich zwischen den
vielen Ständen hindurch. An jeder Ecke wurde etwas anderes
angepriesen: Brot, Fisch, Fleisch, Gemüse und hin und wieder auch
frisches Obst. Obwohl Soraja lieber davon absah, sich etwas bei dem
dicken Händler zu kaufen. Sie hatte gesehen, wo er die Äpfel und
Birnen lagerte – und das »Lager« war alles andere als für
Lebensmittel geeignet. Auf der anderen Seite konnte man Stoffe,
Gewänder und Schuhwerk erstehen. Alles schon nach Farbe und
Stellung getrennt, denn schließlich mussten die einzelnen Stände
unterschieden werden können.
Das Feuer knisterte leise in seiner
Steinmulde, als die Alte einige neue Scheite hineinwarf. Gierig
breiteten sich die roten, gelben und orangefarbenen Flammen über
dem trockenen Holz aus und setzten es in Brand.
Während sich die Glut langsam wieder in ein
loderndes Feuer verwandelte, richtete sich die alte Frau auf und
schlurfte zu den vielen Schränken an der gegenüberliegenden Wand
hinüber. Dort griff sie zielsicher einen der vielen identischen
Tonkrüge und stellte ihn auf den schweren Eichentisch in der Mitte
der Küche. Mit einem Stößel aus schwarzem Stein zerrieb sie die
getrockneten Pflanzenteile, die sich darin befanden, bis sich ein
strenger, würziger Geruch ausbreitete. Es folgten noch weitere
Tongefäße und der Duft in dem von dem Feuer gewärmten Raum wurde
immer schwerer.
Nach einem prüfenden Blick in die brodelnde
Flüssigkeit über dem Feuer warf sie die Kräuter hinein und holte
anschließend einen großen Lederbeutel hervor, aus dem sie einen
dicken Klumpen Schweineschmalz zog. Ein klackendes Geräusch von
zwei Paar Stiefeln erregte jedoch plötzlich ihre Aufmerksamkeit und
sie ließ den Speck auf den Tisch sinken. Mit ihrem knorrigen Stock
als Stütze schleppte sie sich den dunklen Flur entlang in Richtung
Haustür. In ihrem kleinen Vorraum standen zwei junge Menschen –
eine Frau und ein Mann – mit einem vollen Weidenkorb.
»Das wird aber auch Zeit!«, schimpfte die
Alte. »Ich hab mir schon langsam Sorgen gemacht, ob die Wache dich
schon wieder belästigt hätte.« Mit einem besorgten Blick aus ihren
dunkelbraunen Augen sah sie die junge Frau an.
»Ach, Katara! In der Stadt ist die Hölle los!
Quentin und mir geht es gut.« Mit einer wegwerfenden Geste wischte
Soraja die Sorgen der Greisin aus dem Raum und blickte sie mit
einem schiefen Lächeln an.
Mit hochgezogener Augenbraue und einem
misstrauischen Blick musterte Katara Soraja nochmals von oben bis
unten. Doch dann schüttelte sie den Kopf und meinte zu dem jungen
Mann: »Komm, Quentin! Bring den Korb in die Küche!«
Folgsam begleitete der sanfte Riese die alte
Frau durch den Flur zurück und hievte den scheren Korb auf den
massigen Küchentisch. Seine blinden Augen lachten, als er den
würzigen Duft
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