Mars-Trilogie 2 - Grüner Mars
und Rachel und Frantz und den anderen Frühaufstehern über die eisigen Dünen. Er erblickte Hiroko am gegenüberliegenden Ufer, die wie eine Tänzerin über ihrem nassen Spiegelbild schwebte. Er wollte zu ihr gehen; aber es war Zeit für die Schule.
Sie gingen ins Dorf zurück und drängten sich in die Kleiderablage der Schule. Sie hängten ihre Jacken auf und standen, ihre blau gefrorenen Hände über das Heizgitter gestreckt, da und warteten auf den Lehrer des Tages. Das könnte Dr. Robot sein; sie würden sich schrecklich langweilen, und sein Augenzwinkern würden sie wie die Sekunden auf der Uhr zählen. Es könnte die alte, häßliche Gute Hexe sein; und dann würden sie den ganzen Tag wieder im Freien sein und mit Spielsachen herumtollen. Oder es könnte die Böse Hexe sein, alt und schön; und sie würden den ganzen Morgen an ihren Pulten sitzen müssen und versuchen, auf russisch zu denken auf die Gefahr hin, einen Klaps zu bekommen, wenn sie kicherten oder einschliefen. Die Böse Hexe hatte silbernes Haar und eine krumme Nase, mit der sie aussah wie die Fischadler, die auf den Kiefern am Teich lebten. Nirgal fürchtete sich vor ihnen.
Darum verhehlte er wie die anderen seinen Mißmut, als sich die Tür öffnete und die Böse Hexe hereinkam. Aber an diesem Tag wirkte sie müde und ließ sie pünktlich hinaus, obwohl sie in Arithmetik nicht gut gewesen waren. Nirgal folgte Jackie und Harmakhis aus dem Schulgebäude und um die Ecke zu der Gasse zwischen Creche Crescent und der Rückseite der Küche. Harmakhis pinkelte gegen die Wand, und Jackie zog sich die Hosen herunter, um zu zeigen, daß sie das auch konnte. Gerade in diesem Moment kam die Böse Hexe um die Ecke. Sie zog sie alle am Arm aus der Gasse heraus. Nirgal und Jackie hatte sie mit ihren Krallen zusammengepreßt, und draußen auf der Plaza verprügelte sie Jackie und schrie die Jungen wütend an. »Ihr beide haltet euch von ihr fern! Sie ist eure Schwester!« Jackie weinte und krümmte sich, um ihre Hosen hochzuziehen. Sie sah, wie Nirgal sie anschaute, und versuchte, ihn und Maya mit dem gleichen wütenden Hieb zu treffen. Dabei fiel sie mit nacktem Hintern hin und heulte.
Es stimmte nicht, daß Jackie ihre Schwester war. Es gab in Zygote zwölf Sansei oder Kinder der dritten Generation, die sich wie Brüder oder Schwestern kannten, und viele von ihnen waren das auch, aber nicht alle. Das war verwirrend und wurde selten erwähnt. Jackie und Harmakhis waren die ältesten, Nirgal eine Saison jünger, und der Rest insgesamt noch eine Saison später geboren: Rachel, Emily, Reull, Steve, Simud, Nanedi, Tiu, Frantz und Huo Hsing. Hiroko war die Mutter von allen in Zygote, aber nicht in Wirklichkeit - nur von Nirgal und Harmakhis und sechs weiteren Sansei, sowie von etlichen erwachsenen Sansei. Kinder der Muttergöttin.
Aber Jackie war Esthers Tochter. Esther war wegezogen nach einem Streit mit Kasei, der Jackies Vater war. Nicht viele von ihnen wußten, wer ihr Vater war. Nirgal war einmal hinter einer Krabbe über eine Düne gekrochen, als Esther und Kasei darüber auftauchten. Esther weinte, und Kasei brüllte: »Wenn du mich verlassen willst, dann hau doch ab!« Auch er hatte geweint. Er hatte einen rosa Eckzahn. Auch er war ein Kind Hirokos. Mithin war Jackie Hirokos Enkelin. So ging das nun einmal. Jackie hatte langes schwarzes Haar und war die schnellste Läuferin in Zygote außer Peter. Nirgal konnte am längsten rennen und lief manchmal drei oder vier Mal hintereinander um den Teich, nur so. Aber Jackie war schneller im Sprint. Sie lachte die ganze Zeit. Wenn Nirgal einmal mit ihr stritt, pflegte sie zu sagen: »In Ordnung, Onkel Nirgie!« und lachte ihn an. Sie war seine Nichte, obwohl um eine Saison älter. Aber nicht seine Schwester.
Die Schultür wurde aufgerissen, und Cojote, der Lehrer des Tages, war da. Cojote reiste über die ganze Welt und verbrachte nur sehr wenig Zeit in Zygote. Es war ein großer Tag, wenn er sie unterrichtete. Er führte sie im Dorf herum und fand merkwürdige Dinge für sie zu tun; aber während der ganzen Zeit ließ er einen von ihnen laut aus Büchern vorlesen, die unmöglich zu verstehen waren, geschrieben von Philosophen, die schon längst tot waren: Bakunin, Nietzsche, Mao, Bookchin. Die einleuchtenden Gedanken dieser Philosophen lagen wie unerwartete Kiesel auf einem langen Strand von Geschwafel. Die Geschichten, die Cojote ihnen aus der Odyssee oder der Bibel vorgelesen hatte, waren leichter zu
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