Marter: Thriller (German Edition)
PROLOG
Venedig, 5. Januar
Das kleine Boot entfernte sich langsam vom Anleger, sein Zweitakt-Außenbordmotor erzeugte nicht viel mehr als ein leises Plätschern am Heck. Ricci, der den Kahn steuerte, lenkte ihn vorsichtig um die Fischerboote und Gondeln herum, die in dem kleinen Hafen vor Anker lagen. Jeden Abend fuhr er hinaus in die Lagune, vorgeblich, um seine Krebsfallen zu überprüfen. Nur wenige Leute wussten, dass ihm bei seinen Ausflügen hin und wieder auch ein weit lukrativerer Fang ins Netz ging: nämlich fest in blaue Plastikfolie eingeschweißte Päckchen, die unbemerkt an den Bojen befestigt wurden, welche die Positionen der einzelnen Käfige markierten.
Während das Boot die Insel Giudecca hinter sich ließ, beugte Ricci sich nach unten, um sich eine Zigarette anzuzünden. »È sicuro« , sagte er leise. Alles sicher.
Sein Passagier kam wortlos aus der engen Kabine gekrochen. Er war dem Wetter entsprechend angezogen – dunkle Regenkleidung, Handschuhe, eine Wollmütze, die er sich tief in die Stirn gezogen hatte. In der linken Hand hielt er immer noch den Metallkoffer, mit dem er an Bord gekommen war. Dieser war ein klein wenig größer als eine Aktentasche und eher länglich geformt. Ricci erinnerte er an einen von diesen Koffern, in denen Musiker ihre Instrumente aufbewahrten. Allerdings war er sich relativ sicher, dass sein heutiger Passagier mit Musik nichts am Hut hatte.
Eine Stunde zuvor hatte Ricci ein Gespräch auf seinem cellulare entgegengenommen. Dieselbe Stimme, die ihm für gewöhnlich mitteilte, wie viele Päckchen er zu finden hatte, informierte ihn darüber, dass er an diesem Abend einen Passagier zu befördern habe. Ricci hätte um ein Haar erwidert, dass es zu diesem Zwecke doch mehr als genug Wassertaxis gebe und sich sein Fischerboot nicht zur Personenbeförderung eigne. Doch irgendetwas bewegte ihn dazu, sich diesen Kommentar zu verkneifen. In all der Zeit, die er schon Aufträge von dieser Stimme entgegennahm, hatte sie nie auch nur die geringste Regung gezeigt. Nicht einmal dann, wenn die Anweisungen darin bestanden hatten, ein mit Gewichten versehenes, stark an einen menschlichen Körper erinnerndes Paket an den äußersten Rand der Lagune zu fahren und es über Bord zu werfen, damit die Krebse sich daran gütlich tun konnten.
Zu ihrer Linken waren nun Geplätscher und vereinzelt Rufe zu vernehmen. Mehrere Ruderboote pflügten in rasantem Tempo durchs Wasser und hielten auf sie zu. Ricci drosselte den Motor und stellte ihn auf Leerlauf.
»Was ist los?« Es war das erste Mal, dass sein Passagier etwas sagte. Zwar sprach er Italienisch, doch mit starkem Akzent, wie Ricci nicht entging. Sicher Amerikaner.
»Keine Sorge. Die wollen nicht zu uns. Ist gewiss wegen La Befana. Die trainieren für das Rennen.« Während die Boote sich ihnen näherten, zeichnete sich immer deutlicher ab, dass darin offenbar ein paar Frauen in üppigen Kleidern und mit zierlichen Häubchen saßen. Erst als sie an ihnen vorbeifuhren, konnte man erkennen, dass es sich um Ruderteams handelte, die sich lediglich als Frauen verkleidet hatten. »Die sind gleich wieder weg«, fügte Ricci noch hinzu. Und wie auf Kommando umrundeten die Boote eine Boje und ruderten zurück in Richtung Venedig.
Der Passagier murrte. Er war in Deckung gegangen, als die Ruderer näher gekommen waren, zweifelsohne, damit ihn niemand sah. Jetzt stand er mit einer Hand an der Reling am Bug des Bootes und suchte mit seinem Blick den Horizont ab, während Ricci erneut Gas gab.
Sie brauchten eine ganze Stunde, bis sie die Krebsreusen erreicht hatten. An keiner der Leinen war irgendetwas befestigt, und es waren auch keine Boote von der anderen Seite aus auf sie zugekommen. Inzwischen war es dunkel geworden, doch Ricci fuhr immer noch ohne Licht. Am Horizont waren nur ein paar kleinere Inseln auszumachen.
»Welche von denen ist Poveglia?«, erkundigte sich sein Fahrgast.
»Die da.« Ricci deutete auf eine der Inseln.
»Bringen Sie mich dorthin.«
Ohne ein weiteres Wort ging Ricci auf Kurs. Es gab Leute, so wusste er, die hätten sich geweigert, es zu tun, oder einen höheren Preis verlangt. Die meisten Fischer machten einen weiten Bogen um jene Insel. Doch genau aus diesem Grund war sie der perfekte Ort für einen Gelegenheitsschmuggler wie ihn, weshalb er bisweilen in der Nacht dort anlegte, um Frachten an Bord zu nehmen, die zu schwer waren, um sie an einer Boje zu befestigen – Kisten voller Zigaretten oder Whisky, ab und
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