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Marx, my Love

Marx, my Love

Titel: Marx, my Love Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: CHRISTINE GRÄN
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doch so stabil ist er möglicherweise nicht, eine Anna zu tragen. Sie redet zu viel und trinkt zu wenig. Wenn er Dienst hat, gibt es keinen Alkohol, doch an freien Abenden muss es immer genug sein für eine Frau oder tiefen Schlaf. Frauen werden weicher, wenn sie die Promillegrenze überschreiten. Und er mag weiche Frauen. »Gucci-Ziegen« nennt er die in die Jahre gekommenen, diätgeformten, gelifteten, gespritzten Wesen, die in seinem Laden verkehren, an ihren Gläsern nippen und im Essen stochern. Das Gras ihrer Jugend war grüner, und jetzt glänzen sie mit teuer umhüllten Knochen und kostbarem Schmuck. Er kann ihre Angst vor dem Tod förmlich riechen unter all den Parfumdüften.
    Anna ist eine reizende Kuh. Ein wenig fein gemacht für diesen Abend, doch sie trägt keinen Schmuck mit Ausnahme einer alten Herrenuhr, die gut auf ihre kräftige Hand passt. In ihrem Aussehen erinnert sie ihn entfernt an Rosi Stark, obwohl diese dicker, greller und blond ist – und nicht halb so liebenswert wie Anna. Sie kommt häufig ins Lokal, meist mit einem Tross von Prominenten aus der Filmbranche, und sein Chef liebt sie, weil sie ohne Ansehen der Preise bestellt und meist mit Bargeld bezahlt. Dafür schreibt er ihr höhere Rechnungen, die sie von der Steuer absetzt, die er wiederum spart, indem er das Bare abzweigt. Dass eine Hand die andere schmiert, ist in Berlin so gewöhnlich wie überall auf der Welt. Nur da, wo er herkommt, profitieren weniger Leute davon.
    Die Produzentin gibt gutes Trinkgeld, auch das spricht für sie. Doch Rafael hat mindestens einen Grund, sie zu hassen.
    Sobald Harry auftaucht, muss er ihn nach der Pistole fragen. Denn Lily hat gesehen und verraten, dass Harry sie genommen hat. Nachdem Anna sie vorher in der Hand hielt und sich vermutlich fragte, was ein Kellner mit einer Waffe anfängt. Lily sieht alles, zumindest, was in diesem Haus geschieht. Sie ist noch unberechenbarer als Harry, und das will viel heißen.
    »Rede ich zu viel?«
    »Unwesentlich.« Rafael küsst sie auf den roten Mund, bevor er die Teller abträgt, die Reste des Kaviars und der sauren Sahne. Vom Kartoffelpüree hat sie nichts übrig gelassen. Er schenkt Vodka nach, und während er den unaufgeräumten Zustand seines Zimmers und seine Lust gegeneinander abwägt, kommt Harry in die Küche. Bildet er sich das ein, oder sieht sie erschrocken aus?
    »Hübsche Schuhe«, sagt Harry, der Anna, von oben beginnend bis zu ihren Zehenspitzen mustert, bevor er sich an den Tisch setzt. »Kann man darin laufen?«
    »Ein paar Meter«, erwidert Anna, und Rafael stellt die beiden einander vor, hoffend, dass sein Freund nur kurz in der Küche bleibt. Harry ist niemals höflich, allenfalls interessiert und nur dann in erträglichem Maße kommunikationsfähig.
    Ihre gegenseitige Wertschätzung ist von der Neugierde getragen, wie weit zwei Menschen miteinander auskommen, die so verschieden sind. Harry nennt ihn einen Servierpolacken und er Harry einen Schmierfinken. Harry ist ein paar Jahre älter als er und wirkt manchmal wie ein Greis. Die gebückte Haltung und der schlurfende Gang haben mit seiner lädierten Bandscheibe zu tun. Aber es ist mehr als das: Harry trägt die Last einer Welt auf seinen Schultern, die er als guter Mensch nicht besser verlassen kann, als sie ist. Er liebt Brecht und Doderer und verabscheut alle deutschen Filmproduzenten, Redakteure und Regisseure. Politiker sowieso und alle, die sich biegsam im Windschatten des Kapitalismus bewegen.
    »Haben wir uns schon einmal getroffen?«, fragt Harry die Besucherin. Er hat sich von der Suppe genommen und den Kaviar verschmäht. Anna errötet sanft und zuckt mit den Schultern. »Kann sein, ich habe ein so schlechtes Gedächtnis für Gesichter.«
    »Es könnte an dieser komischen Brille liegen.«
    Anna nimmt sie nach kurzem Zögern ab und enthüllt ein grünblaugelbes Auge. Rafael findet, dass es ihr steht. Der Gedanke lässt die Vermutung zu, dass er sich im Anfangsstadium blinder Verliebtheit befindet. Seine Mutter hat schon immer behauptet, dass er einen sonderbaren Geschmack habe.
    Ödipuskomplex, sagt Lily. Sie führt fast alle Verirrungen darauf zurück. Ihr Vater, ein krankhaft ehrgeiziger Sportler, hat sich zu DDR-Zeiten umgebracht, als ihm der große Erfolg versagt blieb. Er hat Lily in allen möglichen Kampfsportarten unterrichtet, unter anderem auch Boxen. Er wollte aus dem Zwerg einen Riesen machen. Lily glaubt, dass ihr Vater Selbstmord beging, weil auch sie ihn enttäuscht

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