Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht
ich doch!«
Sie machte die Augen auf, so weit sie konnte.
»Das ist Emer!«
Emer quietschte und Tansey bereitete sich darauf vor, dasselbe nochmals zu machen. Aber plötzlich – bevor sie es auch nur als Gedanken formulieren konnte – fühlte sie sich nicht mehr gut. Schweiß trat auf ihre Stirn, und sie hatte das Gefühl, es würde ihr gleich schlecht werden. Sie lehnte sich zurück, in der Hoffnung, das Schwindelgefühl möge verschwinden. Sie schloss die Augen.
Emer wusste, dass etwas nicht stimmte. Tansey spürte es in der Ruhelosigkeit des Kindes. Sie wollte die Augen öffnen, mit diesem Tag weitermachen, der ihr so sehr gefiel. Aber es gelang ihr nicht. Sie musste schlafen.
»Mama?«, hörte sie Emer fragen. »Warum hast du die Augen zu?«
Sie spürte eine Hand, eine kühle Hand, auf ihrer Stirn.
»O Gott, die Grippe!«
Es war Jims Mutter, die da sprach.
»Rauf mit dir ins Bett, Tansey-Mädchen.«
»Das geht bald wieder«, sagte Tansey.
»Keine Widerrede«, sagte Jims Mutter. »Und natürlich geht es bald wieder.«
Tansey spürte, wie Emer von ihr heruntergehoben wurde. Sie hörte den Protest, das Wimmern. Sie öffnete die Augen, aber der Raum drehte sich vor ihr, also schloss sie sie wieder, erschöpft von dieser Anstrengung. Sie spürte starke Hände auf ihrem Arm – die Hände von Jims Mutter – und versuchte sich mit eigener Kraft aus dem Sessel zu stemmen. Aber ohne Hilfe ging es nicht.
Jetzt stand sie und zitterte. Aber sie öffnete die Augen, achtete darauf, Emer direkt anzusehen, und sie lächelte.
»Da hab ich aber Glück gehabt«, sagte sie. »Dass Großmutter mich ins Bett bringt.«
»Kann ich mit?«
»Oma wird dich hier unten brauchen. Oder, Oma?«
»Und ob ich das werde«, sagte Jims Mutter. »Ohne Emers Hilfe wäre ich völlig hilflos.«
Die Treppe führte aus der Küche nach oben. Der Aufgang war schmal und steil. Tansey nahm die ersten beiden Stufen und wandte sich um und lächelte Emer zu. Dann ging sie weiter.
»Grippe?«
»Ja.«
»Die Schweinegrippe?«, sagte Mary.
»Nein, nein«, sagte ihre Mutter. »Eine ganz normale Grippe.«
»Dann ist sie also gestorben an der Grippe?«
»Ja«, sagte Scarlett. »Früher war das eine häufige Todesursache. Millionen Menschen starben daran. Grippe war damals viel gefährlicher.«
»Wann war das?«
»1928.«
»Das ist so traurig«, sagte Mary.
»Ist es«, sagte ihre Mutter. »Und deshalb hab ich mich so erschrocken, als du den Namen erwähntest. Tansey.«
»Derselbe Name.«
»Deine Großmutter hat mir früher alles von ihr erzählt, jedenfalls das wenige, woran sie sich erinnerte. Wie sie gestorben ist. Deine Großmutter war nämlich erst drei, als das geschah.«
»Für dich muss das irgendwie auch traurig gewesen sein«, sagte Mary.
Sie saßen wieder im Wagen, auf dem Weg ins Krankenhaus. Das Heiligherz-Hospital.
»War es«, sagte Scarlett. »Aber es hielt sich in Grenzen.«
Die !!!s ihrer Mutter waren verschwunden, aber Mary entschied, das nicht zu erwähnen. Sie sprachen über den Tod. Das Seltsame daran war, dass Mary diese Unterhaltung gefiel.
»Sie hat nie ein Geheimnis daraus gemacht«, sagte Scarlett. »Sie hat nie geglaubt, es wäre zu traurig für mich, das zu erfahren. Und ihre eigene Großmutter war wunderbar.«
»Meine Ur-Ur-Großmutter«, sagte Mary.
»Oh Gott, ich hab die Übersicht verloren!«, sagte Scarlett. »Aber es stimmt, glaube ich. Sie wurde sozusagen zu Emers Mama.«
»Nicht wirklich«, sagte Mary.
»Nein«, stimmte ihre Mutter zu. »Du hast recht. Aber immerhin hatte Emer Menschen um sich herum, die sie liebten.«
Sie wischte sich über die Augen.
Mary ebenfalls.
Sie lächelten.
»Was ist mit deinem Großvater?«, sagte Mary.
»Jim?«, sagte Scarlett. »Ich erinnere mich an Opa Jim. Er hatte ein langes, erfülltes Leben und starb in einem hohen, reifen Alter.«
»Was bedeutet das?«
»Du weißt doch, was es bedeutet, Mary!«
»Klar«, sagte Mary. »Aber warum ›reif‹? Warum sagt man das so? Das ist doch eklig. Das klingt, als wäre er eine vergammelte Banane gewesen oder irgendwas, das in meiner Schultasche geplatzt ist und alle meine Bücher und Hefte versaut hat oder so.«
»Was für ein Bild!«, sagte Scarlett. »Du wirst noch mal Schriftstellerin!«
»Nein, werde ich nicht«, sagte Mary. »Ich wollte dir nur irgendwie schonend beibringen, dass diese Banane in meiner Schultasche zermatscht ist und die ganze Pampe meine Bücher
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