Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht
wartete darauf, hochgehoben zu werden. So kannte sie es. In der Küche war es immer noch dunkel – ihre Augen waren noch nicht so weit –, aber sie konnte ihre Großmutter sehen, deren Umrisse am Küchenherd, wo sie sich ums Essen sorgte. So nannte es ihr Vater, diese Art der Großmutter, beim Kochen am Herd zu stehen. Sie sorgt sich ums Essen, das macht sie da.
Emer erinnerte sich daran. Sie erinnerte sich daran, als wäre es gestern oder sogar erst heute gewesen, wie an etwas, das gerade eben erst passiert war. Sie wartete darauf, hochgehoben zu werden. Und dann hoben Hände sie hoch. Zwei Hände, die sich um Emer legten, zwei Arme, die von hinten kamen. Ihre Mama war in die Küche getreten – Emer hatte sie nicht gehört. Jetzt fühlte sie sich emporgehoben, sanft emporgehoben, und umgedreht, sodass ihr Kopf auf der Schulter ihrer Mama ruhte, dann noch etwas höher, und sie sah ihrer Mama direkt ins Gesicht.
»Na, was ist denn los mit dir?«
Sie erinnerte sich an die Stimme ihrer Mutter. Jedes Wort zog wie eine weiße Wolke vor ihren Augen vorbei.
»Das Hei!«, hatte sie gerufen.
Daran konnte sie sich nicht erinnern. Das Ei – ›das Hei‹. Ihre Großmutter hatte ihr von dem H erzählt, das sie regelmäßig einem Ei vorangestellt hatte.
»Ist es dir runtergefallen?«
»Isses!«
»Aber sicher.«
»Es ist tot.«
Jetzt setzte ihre Erinnerung wieder ein. Das waren Worte, die sie immer noch hören konnte, ihre eigenen Worte und die ihrer Mama.
»Es ist nicht tot, Schätzchen. Nur zerplatzt.«
»Ich hab’s getotmacht.«
»Nein.«
»Hab ich wohl!«
Sie war so glücklich auf den Armen ihrer Mutter, hoch in der Luft, nahe ihrem Gesicht. Sie hätte ewig weiterweinen und sich beschweren mögen, nur um dort oben bleiben zu können.
»Nein, nein«, sagte Tansey. »In einem Ei, das nicht unter der Henne liegt, da ist kein Leben drin. Und überhaupt, schau mal. Wir haben einen ganzen Korb voll davon. Magst du ein anderes haben, ja?«
»Nein«, sagte Emer.
»Dann nicht.«
Das Ei war inzwischen egal. Emer machte sich um das Ei keine Gedanken mehr. Sie sah es jetzt vor sich, auf dem Steinboden. Sie hatte ihre Mama ganz für sich allein, wenigstens für eine Weile. Ihr kleiner Bruder, Baby James, schlief noch. Keinen Mucks gibt der von sich. Sie liebte Baby James– er ist unser Schätzchen –, aber manchmal fühlte sie sich, als stünde sie draußen und betrachtete durch ein Fenster all die Menschen, die sie liebte, ohne von ihnen wahrgenommen zu werden. Alle wirbelten sie bloß um Baby James in seinem Bettchen herum. Aber jetzt schlief Baby James tief und fest.
»Es war nur ein Hei«, sagte Emer.
»Das war es«, sagte ihre Mutter. »Ein feines Ei, das muss man zwar sagen, aber eben doch nur ein Ei.«
Sie trug Emer rüber zum Feuer und Großvaters Sessel. Großvater war tot und im Himmel – der kommt nicht mehr wieder –, aber der Sessel war immer noch seiner. Ihre Großmutter nahm nie darin Platz. Und Emer wusste, denn sie hatte ihre Mama und ihren Papa darüber reden hören, dass ihr Papa erst hatte heiraten dürfen, nachdem der Großvater gestorben und der Hof in den Besitz ihres Vaters übergegangen war. Er war ein schwieriger Mann. Das hatte sie flüstern hören. Der Hof gehörte ihrem Papa, aber der Sessel gehörte immer noch Großvater. Trotzdem nahm ihre Mutter einfach darin Platz, wenn ihr danach war, und niemand beschwerte sich darüber, selbst Großvater nicht – von da oben.
Der Kamin war riesig, groß wie ein Zimmer, und der Sessel stand direkt daneben, fast schon mitten darin. Neben dem Stuhl befand sich das Antriebsrad für den großen Blasebalg und unmittelbar beim Rad schlief der arme Parnell. Emer liebte es, das Rad zu drehen, wenn ihr langweilig war, das schleifende Geräusch des Riemens. Aber heute nicht. Heute würde sie nicht jammern und versuchen, von Mamas Schoß zu klettern. Sie war genau da, wo sie sein wollte. Und kein Mucks von Baby James, der zugedeckt in seinem Bettchen lag. Der Sessel war voller Gerüche, aber es waren gute Gerüche. Einer roch nach dem Pfeifentabak ihres Papas, ein anderer roch nach Heu. Sogar der Geruch nach den Windhunden war gut, weil es nur deren Geruch war, ohne die Tiere dabei. Der Geruch war das einzig Gute an den Windhunden. Es war ein schöner, fettiger Geruch, obwohl die Windhunde selber dürr waren, so klapperdürr, dass sie Emer Angst einjagten. Sie waren wie die Schatten von Hunden, nicht wie Hunde selbst, die Geister längst toter
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