Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht
verkleistert.«
»Ernsthaft?!«
»Ernsthaft.«
»Na gut, darum kümmern wir uns, wenn wir wieder zu Hause sind.«
»Okay«, sagte Mary.
Ihr Plan hatte funktioniert. Entstanden war er eigentlich erst vor einer Minute, als sie während der Unterhaltung über die Großmutter ihrer Mutter, diese andere Tansey, daran gedacht hatte, was ihrer Schultasche – in ihrer Schultasche – passiert war. Aber besser hätte sie das Timing nicht hinkriegen können. Sie hatte sich vor dem Moment gefürchtet, wenn sie es ihrer Mutter erzählte. Aber jetzt hatte sie es hinter sich, und ihre Mutter würde den Hauptteil des Saubermachens übernehmen – Mary wusste das; sie sah es schon regelrecht vor sich –, und wenn das erledigt war, würden sie sogar noch heiße Schokolade trinken und sich irgendeinen Film ansehen, den nur Frauen und Mädchen toll fanden.
Sie fuhren auf das Parkgelände vor dem Krankenhaus. An der Schranke hielt Scarlett an und beugte sich aus dem Fenster, um ein Ticket aus dem Automaten zu ziehen.
»Jedes Mal, wenn ich das mache, hab ich Angst, dabei rauszufallen!«, sagte sie und lachte.
»Wenigstens ist es das Parkhaus vom Krankenhaus«, sagte Mary. »Das käme doch gelegen.«
Scarlett lachte erneut.
»Meine Güte«, sagte sie. »Wie ich diesen Ort hasse.«
»Ich auch«, sagte Mary. »Das erzähle ich ihr.«
»Wem?«
»Tansey.«
»Was erzählst du ihr?«
»Dass meine Urgroßmutter genauso hieß wie sie. Sie ist wirklich nett.«
Scarlett fand einen freien Platz auf der zweiten Ebene und parkte den Wagen.
Sie stiegen aus, schlugen die Türen zu.
»Ich würde sie gern mal kennenlernen«, sagte Scarlett.
»Na ja, sie ist immer irgendwo draußen unterwegs«, sagte Mary. »Sobald ich nach Hause komme.«
»Vielleicht komm ich morgen mal raus und begrüße sie«, sagte Scarlett.
»Okay«, sagte Mary.
Sie verließen das Parkhaus und folgten dem Weg zum Hauptgebäude, an den Leuten vorbei, die in Morgenmänteln vor der Tür standen und rauchten, dann durch den Eingangsbereich, an den Läden vorbei, wo Süßigkeiten und Blumen verkauft wurden und wo Mary regelmäßig niesen musste, und den langen Korridor hinunter, der von dem Flüstern der Leute und vom Quietschen der Sohlen ihrer Schuhe und Pantoffeln erfüllt war. Und in den leeren Fahrstuhl, in den ein Auto gepasst hätte, der aber nur deshalb so breit war, damit die Rolltragen reinpassten, auf denen Leute in die OP s gebracht oder von dort geholt wurden. Jedes Mal befürchtete Mary, eine Rolltrage zu sehen, auf der ein Tuch das Gesicht eines Menschen verhüllte.
»Warum zieht man ihnen ein Laken übers Gesicht?«, fragte sie ihre Mutter, während der Fahrstuhl so langsam nach oben fuhr, dass sie nicht sicher waren, ob er sich überhaupt bewegte.
»Du meinst, wenn jemand tot ist?«
»Klar«, sagte Mary. »Wann denn sonst.«
»Werd jetzt nicht unhöflich.«
»Ich bin nicht unhöflich«, sagte Mary. »Aber ansonsten wird es ja nicht gemacht.«
»Ich weiß nicht«, sagte Scarlett. »Was ist mit sehr schüchternen Leuten?«
»Was soll mit denen sein?«
»Ich bin mir sicher, dass die gern ein Laken überm Gesicht hätten, wenn sie herumgerollt werden.«
»Das ist jetzt ein Witz, oder?«, sagte Mary.
»Ja, ist es«, sagte Scarlett.
»Der war nicht schlecht«, sagte Mary. »Aber ich finde, das ist hier weder der passende Ort noch die passende Gelegenheit für Witze.«
Scarlett lachte.
»Du bist unmöglich«, sagte sie.
»Wenn ich unmöglich bin«, sagte Mary, »wie kommt’s dann, dass ich hier bin? In diesem sehr langsamen Fahrstuhl?«
Endlich hielt er an. Ungefähr zwei Tage später – tatsächlich waren es fünf Sekunden – glitten die Türen langsam auf und Mary und Scarlett stiegen aus.
Sie gingen an der Krankenschwester vorbei, die Mary nicht leiden konnte, und an der anderen, die sie mochte.
»Wie geht es ihr?«, fragte Scarlett.
»Es geht ihr großartig«, sagte die nette Krankenschwester.
Marys Großmutter schlief.
Sie setzten sich zu ihr ans Bett. Sie wurde nicht wach. Das war noch nie vorgekommen. Marys Großmutter war entweder bereits wach gewesen oder spätestens wach geworden, wenn sie bei ihr ankamen. Aber jetzt lag sie dort. Ihr Kopf auf dem Kissen wirkte winzig.
Mary setzte sich auf die Bettkante, aber ihre Großmutter schlief weiter.
»Sie sieht glücklich aus«, flüsterte Scarlett.
Das stimmte – wenn sie wollten, dass es stimmte. Ihr Gesicht war ganz ruhig. Die Falten waren dieselben, die Mary kannte, seit
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