Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht
sie sich erinnern konnte, jene Falten, die schon immer zu ihrer Großmutter gehört hatten. Jene Falten, die wie Lichter angingen oder wie Wege, die beleuchtet wurden, sobald ihre Großmutter lachte – was oft der Fall war. Wege, die zu den Augen ihrer Großmutter führten – damit ich dich besser sehen kann, mein Schätzchen.
Sie blieben noch eine Weile länger – zwanzig Minuten –, in der Hoffnung, sie würde aufwachen. Scarlett hielt ihrer Mutter die Hand. Dann Mary. Für einen Augenblick hatte sie Angst, bevor sie die Hand berührte – für den Fall, dass sie kalt war. Doch das war sie nicht. Sie war warm, und Mary hatte den Eindruck, ihre Großmutter erwiderte ganz kurz, ganz leicht, ihren Händedruck.
»Wir gehen jetzt besser«, sagte Scarlett. »Die Jungs sind bestimmt schon zu Hause.«
Mary nickte, aber sie blieben sitzen, bis Mary den Stuhl ihrer Mutter schieben und knarren hörte und diese sich über das Gesicht im Kissen beugte und es küsste.
Mary ließ sich vom Bett gleiten, lehnte sich dann gegen das Bett und versuchte nachzumachen, was ihre Mutter getan hatte. Aber sie war nicht groß genug, um an ihre Großmutter heranzukommen. Also kletterte sie aufs Bett und küsste ihre Großmutter auf die Wange.
»Ah, jetzt aber«, sagte ihre Großmutter, ohne dass ihre Augen sich dabei öffneten. »Den Kuss kenne ich.«
»Oma?«
Sie gab keine Antwort.
»Oma?«
»Wir sollten besser gehen«, sagte Scarlett.
»Sie hat mit mir gesprochen«, sagte Mary.
»Ich weiß«, sagte Scarlett. »Das ist schön.«
Mary küsste ihre Großmutter noch einmal auf die trockene Wange und kletterte vom Bett.
Dann fiel ihr etwas ein.
Sie erklomm das Bett erneut.
»Oma?«
Die Augen ihrer Großmutter blieben geschlossen. Mary betrachtete den Mund ihrer Großmutter und sah ihn sich ein wenig bewegen, als zerplatzte darin eine Luftblase. Mary entschied, dass ihre Großmutter, auch wenn sie schlief, sie trotzdem hören konnte.
»Oma«, sagte sie – sie beugte sich wieder zum Ohr ihrer Großmutter hinab. »Tansey sagt, alles wird ganz großartig.«
Sie musterte ihre Großmutter, suchte nach einem Anzeichen dafür, dass die Worte Eingang in sie gefunden hatten. Die Augen blieben geschlossen, aber die Falten neben ihnen verschoben sich ein um eine Winzigkeit nach oben.
»Alles wird ganz großartig«, wiederholte Mary und versuchte wie Tansey zu klingen.
Dann glitt sie vom Bett und richtete sich gerade auf, sobald ihre Füße den Boden berührten.
»Was war das denn eben?«, fragte ihre Mutter, während sie wieder auf den Fahrstuhl warteten.
»Eine Botschaft«, sagte Mary.
»Eine Botschaft?«
»Genau.«
»Eine Botschaft von wem?«
»Tansey.«
»Die alte Frau?«
»Nein. Der Fußballspieler.«
»Sei nicht so frech.«
»’tschuldigung«, sagte Mary.
»Die alte Frau.«
»Sie ist nicht alt«, sagte Mary. »Aber, ja.«
»Kennt Tansey deine Großmutter?«
»Ja«, sagte Mary. »Ich glaube schon.«
Ihr ganzes Leben lang erinnerte Emer sich daran. An den Tag, an dem ihre Mama aufgehört hatte. Sie war erst drei gewesen, als es geschehen war. Auch daran erinnerte sie sich für den Rest ihres Lebens. Ihre Großmutter erzählte es ihr und ihr Vater und ihre Tanten und ihre Onkel.
Du warst erst drei.
Du warst erst drei, Gott schütze dich.
So ein kleines Ding, aber schon so ein tapferes Mädchen.
Sie erinnerte sich an das Ei. Es hatte ihr gehört, das Ei. Sie hatte es in die Küche gebracht, um es ihrer Großmutter zu zeigen. Sie erinnerte sich daran, wie sie in die Dunkelheit der Küche gestürmt war. Aber sie wusste nicht mehr, von wo sie gekommen war. Und das machte sie traurig, denn sie war draußen bei ihrer Mama gewesen – so wurde es ihr erzählt –, und so sehr sie sich auch bemühte – und sie bemühte sich jahrelang –, ließ die Erinnerung sich nicht mit nach draußen nehmen, nach draußen auf den Hof, wo ihre Mutter hinter ihr hergegangen war. Sie stürmte in die Küche, zu aufgeregt – zu glücklich –, um zu verlangsamen, und bevor ihre Augen sich an die Dunkelheit angepasst hatten, war das Ei ihrer Hand entglitten und sie hörte es auf dem Steinboden zerplatzen. Nur ein kleiner, flacher Laut, als tippte man den Finger gegen eine geblähte Wange, und sie wusste, dass das Ei verloren war, noch ehe sie den endgültigen Beweis dafür erblickte. Sie hatte zu weinen begonnen, schon bevor sie es wirklich begriff. Da war nichts mehr, um es ihrer Großmutter zu zeigen. Sie hatte das Ei getötet.
Sie
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