Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht
hierbleiben«, sagte Mary. »Es ist gruselig. Das ist nicht vorlaut gemeint.«
»Wohin fahren wir?«, fragte Scarlett.
»Ich hab Hunger«, sagte Mary.
»Hast du auch Hunger, Mama?«, sagte Scarlett.
»Nein«, sagte Emer.
»Ich wünschte, ich hätte welchen«, sagte Tansey.
»Also, wohin fahren wir?«
Emer versuchte sich erneut nach vorn zu beugen, diesmal mit Erfolg. Ihr Gesicht war nahe bei Marys Schulter.
»Ich möchte nach Wexford«, sagte sie.
»Wexford!«
»Wexford«, sagte Emer. »Der Bauernhof. Den will ich sehen und da will ich hin.«
Sie fiel in ihren Sitz zurück.
»Aber das ist so eine lange Fahrt!«, sagte Scarlett. »Und es ist dunkel, schon spät und …«
»Ich möchte auch dorthin«, sagte Tansey.
»Aber ich habe Doktor Patel versprochen, dass wir Mama – Emer – in einer Stunde zurückbringen!«
»Ich möchte auch nach Wexford«, sagte Mary.
»Aber der Hof befindet sich längst nicht mehr im Besitz der Familie!«
»Ich will ihn ja bloß sehen«, sagte Emer. »Ich werde ihnen ganz bestimmt nicht ihre Kühe klauen.«
»Du bist schon wieder vorlaut, Emer«, sagte Tansey.
»Tut mir leid, Scarlett, Liebes.«
»Oh-kay!«, sagte Scarlett. »Fahren wir nach Wexford!«
»Cool«, sagte Mary.
Scarlett ließ den Wagen an. Bevor sie den Fuß von der Bremse nahm, hörten sie und Mary eine Stimme von hinten.
»Ich muss mal pinkeln.«
»Wer hat das gesagt?«
»Geister müssen nicht pinkeln, Liebes«, sagte Tansey.
Mary schob sich im Sitz etwas höher, um in den Rückspiegel blicken zu können. Sie konnte nur ihre Großmutter sehen. Von Tansey war dort hinten keine Spur. Sie drehte sich nicht um. Sie schaute weiter in den Spiegel.
»Musst du aufs Klo, Oma?«, fragte sie, während sie beobachtete, wie die Augen ihrer Großmutter sich schlossen. Im Wagen selber war es dunkel, aber unter der niedrigen Decke des Parkdecks war eine Neonlampe montiert, direkt hinter der Heckscheibe des Wagens, sodass Mary ihre Großmutter hervorragend sehen konnte. Sie war eingeschlafen.
»Leg deinen Gurt an, Mary!«, sagte Scarlett.
»Moment noch.«
Marys Oma schlief und lehnte gegen etwas, das Mary nicht sehen konnte – als würde sie von einer unsichtbaren Hand davor geschützt, zur Seite zu kippen. Und da war noch etwas. Mary musterte eine der Hände ihrer Großmutter. Sie sah aus, als hinge sie mitten in der Luft, und als hielte sie sich an etwas fest, das Mary nicht sehen konnte.
Sie drehte sich um und jetzt sah sie es. Die Hand ihrer Großmutter lag in einer Hand von Tansey, und beide Hände lagen in Tanseys Schoß.
»Das ist dermaßen cool«, sagte Mary.
Tansey lächelte ihr zu.
Mary legte sich den Gurt um.
Es war still. Scarlett fuhr. Mary schaute aus dem Fenster. Sie fragte weder nach Musik noch nach etwas zu essen. Ihre Großmutter schlief, und Mary wusste, dieser Ausflug war etwas Besonderes. Etwas, das keiner geplant hatte. Etwas eigentlich Unmögliches. Vier Generationen von Frauen – »Ich bin eine Frau«, versicherte Mary sich selbst –, unterwegs auf einer Reise mit dem Auto. Eine von ihnen tot, die andere sterbend, eine von ihnen fuhr, die andere trat erst ins Leben. Ich bin eine Frau. Sie schaute aus dem Fenster und erkannte, wo sie sich befanden, jedenfalls für eine Weile. Sie fuhren am Meer entlang, immer noch in Dublin. Da waren erleuchtete Plätze und Gebäude, die sie kannte. Hinter ihnen lagen die hohen Schornsteine des Kraftwerks, und gerade hatten sie eins von diesen Befestigungsdingern passiert, einen Martello-Turm, der erbaut worden war, als Napoleon Bonaparte oder jemand in der Art sich überlegt hatte, in Irland einzufallen oder irgendwas in der Art. Der Name des Ortes fiel ihr ein. Sandymount.
Dann war das Meer nicht mehr zu sehen und sich befanden sich auf einer Autobahn – Mary erkannte es daran, dass ihre Mutter das Gaspedal durchtrat und den Wagen erheblich beschleunigte. Jetzt wusste sie nicht mehr, wo sie waren. Für eine Weile war alles nur Straße. Etwas anderes war in der Dunkelheit nicht zu erkennen.
»Keine Kurven.«
»Wer hat das gesagt?!«
»Ich«, sagte Emer.
»Du bist wach!«
»Gut zu wissen.«
Plötzlich wurde Mary bewusst: Sie war selber ebenfalls eingeschlafen. Aber jetzt war sie wach – ganz bestimmt. Die Stimme ihrer Großmutter hatte sie geweckt – nahm sie jedenfalls an.
Sie wandte sich um, um ihre Großmutter sehen zu können.
»Was hast du gesagt, Oma?«, fragte sie.
»Keine Kurven«, sagte Emer.
»Was meinst du damit?«
»Ich
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