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Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Titel: Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Doyle
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Sie sah Emer in dem neuen Mantel, und zwei Gefühle durchschossen sie – Stolz und der Kummer einer toten Frau. Emer wuchs heran – sie war bereits groß und sie hatte die langen Beine eines Fohlens – und Tansey konnte bloß dabei zusehen. Den neuen Mantel hatte jemand anderes ausgesucht. Der gemeinsame Einkauf, die Fahrt nach Enniscorthy oder womöglich sogar Wexford, der ganze abenteuerliche Tag, all die Dinge, auf die Tansey sich gefreut hatte – aus, vorbei, nie gewesen.
    Sie konnte sich ihr nicht nähern. Sie wollte nicht – sie würde Emer niemals Angst einjagen. Tansey war tot. Seit drei Wintern war sie tot. Aber sie konnte nicht gehen.
    Es war ein trauriges kleines Gesicht, das nach den passenden Kieselsteinen suchte. Vier der Windhunde beobachteten sie durch den Zaun hindurch. Aber Emer schaute nicht in ihre Richtung. Sie verstand es, ihnen aus dem Weg zu gehen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. Sie schaffte es, überall hinzugehen, überall hinzuschauen, nur zu den Hunden nicht.
    Sie hatte einen guten Stein gefunden. Tansey konnte sehen, dass er größer war als die anderen. Emer wischte sich mit dem Ärmel über die Nase. Eine Mutter hätte dafür gesorgt, dass ihr Kind immer ein Taschentuch bei sich hatte. Sie sah zu, wie Emer zum Brunnen zurückging. Sie sah zu, wie sie sich über den Rand lehnte. Sie sah, wie ein Bein vom Boden angehoben wurde. Sie wartete darauf, dass Emer den Stein in den Brunnen fallen ließ. Doch das tat sie nicht. Der Fuß kam wieder herunter, dann stemmten beide Füße sich nach oben und Tansey wusste, da geschah etwas anderes, etwas Schlimmes.
    Sie hetzte über den Hof, schnell, und durch den Zaun, mitten unter die Windhunde. Sie sahen nichts, aber sie spürten, dass Tansey unter ihnen war – und gebärdeten sich wie wahnsinnig. Sie zerbissen die Luft, stiegen übereinander und verursachten einen solchen Aufstand, dass in der nächsten Sekunde Jims Mutter aus dem Haus geschossen kam. Sie riss Emer vom Brunnen herunter und trug sie davon fort.
    Emer protestierte.
    »Ich wäre nicht reingefallen! Wäre ich nicht!«
    »Mein Herz!«, sagte Jims Mutter.
    »Ich hab nur Steine reingeworfen.«
    »Du Schlawinerin! Ich hab dich gewarnt!«
    »Ich wäre nicht reingefallen!«
    »Du wärst ertrunken, wenn die Hunde nicht gewesen wären.«
    »Ich hasse sie!«
    »Sie haben dich gerettet.«
    »Ich hab mich selber gerettet!«
    Tansey befand sich schon wieder auf der anderen Seite des Hofs, im Schatten des Melkstands. Sie konnte nur zusehen, und sie konnte sich nur wünschen, dass das wütende Schimpfen ihr gegolten hätte. Sie sah, wie Emer ihrer Großmutter durch die Hintertür ins Haus folgte. Sie sah, wie die Tür sich schloss.

»Oma?« Mary beobachtete die Augen ihrer Großmutter.
    »Oma?«
    Die Augen öffneten sich.
    »Du bist wieder da, oder?«
    »Bin ich«, sagte Mary, und sie fand, dass sie klang wie Tansey.
    »Bist du auf eigene Faust gekommen, oder was?«
    »Nein«, sagte Mary.
    »Wo ist dann deine Mama?«
    »Sie redet mit einem der Ärzte.«
    »Oh, mit diesen Kerlen sollte sie nicht reden. Die wissen nicht halb so viel, wie sie sich einbilden.«
    »Sie fragt sie, ob wir dich irgendwie mitnehmen können, nach draußen«, sagte Mary.
    »Also, ich weiß nicht«, sagte ihre Oma. »Ich weiß nicht, ob mir wirklich nach einem Zoobesuch oder nach einem Strandspaziergang ist. Falls es das ist, was du mit ›draußen‹ meinst.«
    Ihr Kopf bewegte sich auf den Kissen, ebenso ihre Schultern. »Aber weißt du, was?«, sagte sie. »Es ist trotzdem schön, dich zu sehen. Du bist wie ein Stärkungsmittel.«
    »Wie Stärke in Kartoffeln?«
    »Genau so«, sagte Emer.
    Mary half ihr mit einem der Kissen. Sie schob es ihrer Großmutter hinter den Rücken.
    »Na dann«, sagte ihre Oma. »Sie redet also mit einem der Ärzte, ja?«
    »Ja.«
    »Mit diesem großen Kerl?«
    »Nein«, sagte Mary. »Mit einer Frau.«
    »Ach so«, sagte ihre Oma. »Großartig.«
    Sie musterte Mary sorgfältig. »Aber es geht mir wirklich nicht gut, verstehst du?«, sagte sie, langsam und ernst.
    »Ich verstehe«, sagte Mary. »Wir wissen das.«
    »Wir wissen das«, wiederholte ihre Oma. »Warum versuchen wir dann, mich aus dem Bett zu holen?«
    Mary dachte darüber nach.
    »Um jemanden zu treffen«, sagte sie.
    »Aha.«
    »Jemand besonderen.«
    »Aha«, sagte ihre Oma. »Jemand besonderen. Das dürfte dann wohl Elvis sein, oder?«
    Sie lächelte.
    »Besser«, sage Mary.
    »Besser als Elvis?«
    Sie machten Witze,

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