Masala Highway
benutzen“, fuhr er fort. „Die Atombombe ist Indiens Pistole.“
„Soll das heißen, dass Sie dafür wären, die Atomwaffen gegen Pakistan bei einem Angriff einzusetzen?“, hakte ich nach. Der Politiker schüttelte den Kopf – in Indien leider ein Zeichen der Bestätigung.
Seitdem wird mir immer ein klein wenig flau im Magen, wenn ich von einem Schusswechsel auf irgendeinem steinigen Gebirgspass in Kashmir höre. Es ist zu hoffen, dass auf nationaler Ebene der Politik die Mehrheit der Volksvertreter schon einmal etwas vom Prinzip der Abschreckung gehört hat, oder dass Nuklearwaffen sich von anderen darin unterscheiden, dass die einzig gewinnbringende Art ihrer Nutzung ist, sie nicht zu benutzen. Aber solange Indien und Pakistan eine „heiße“ Grenze haben, kann indische Politik auch für uns zu einer brandheißen Angelegenheit werden.
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1 Siehe Kapitel „Vier Stunden, zwei Pausen, eine andere Welt“.
2 Große Seele: Bedeutung des sanskritischen Ehrentitels „Mahatma“, mit dem Gandhi bis heute bezeichnet wird. M.K. Gandhi lehnte den Beinamen ab.
3 Die länglichen Mützen aus gewebtem Baumwollstoff, wie sie der erste Premierminister trug, gehören heute noch zu der Pflichtgarderobe vieler männlicher Politiker.
Die Straße der Frauen
„Gamilla, gamilla!“ In einer langen Kette reichen wir die schweren Blechschüsseln mit dem Zementmatsch weiter. Kaum ist eine der Schüsseln, eine Gamilla, in den Händen eines Helfers gelandet, wandert sie zum Nachbarn weiter. Bald schon sind die Arbeitshandschuhe durchgeweicht – so wie wir, denn es ist heiß: Obwohl es erst Morgen ist, zeigt das Thermometer schon 30 Grad an. Die Zementmasse ist schwer, eine Gamilla lässt sich kaum noch heben, wenn mehr als eine Schaufel von dem grauen Matsch in ihr gelandet ist. Und es scheint kein Ende zu nehmen: Eine Schüssel nach der anderen schütten wir in den großen Holzrahmen, der später mal nur ein Segment von vielen der Straße sein wird. Wir, das sind ein Dutzend Freiwillige aus Deutschland, die für ein paar Wochen nach Indien gereist sind. Gemeinsam mit Straßenarbeitern und Dorfbewohnern aus der Gegend südlich von Nagpur in Maharashtra bauen wir ein kleines Stück Zementweg, einen ganz speziellen Masala Highway. Auf den ersten Blick ein verrücktes Unterfangen: Der Weg führt von der schlecht befestigten Landstraße nur ein paar Meter in Richtung eines flachen Hauses. Nie wird die kurze Trasse zu einer Verkehrsstraße wachsen. Spätestens nach dem zweiten Arbeitstag fragen sich manche, ob diese Arbeit überhaupt sinnvoll ist. Doch es ist keine Straße nach Nirgendwo: Das Haus ist der ländliche Mittelpunkt der Entwicklungshilfe von Ecumenical Sangam. Die indische Organisation unterstützt Dörfer im Süden Nagpurs – eine Industriestadt und zeitweilige Landeshauptstadt Maharashtras –, in der zweieinhalb Millionen Menschen leben. Wer in Nagpur ist, befindet sich mitten in Indien – das geografische Zentrum der Republik liegt in der Stadt. Einen Einblick ins indische Dorfleben erhalten die Teilnehmer des Workcamps, an dem ich 1999 teilnehme. Zwei Wochen lang gehören die Vormittage unserem Mini- Straßenbauprojekt, nachmittags und an den Tagen, an denen diese Arbeit ruht, begleiten wir die Mitarbeiter des Ecumenical Sangam auf ihren Dorfbesuchen. Die meisten der Dorfbewohner sind Bauern und Landarbeiter, und die Region um Nagpur gehört zu den vielen ländlichen Gebieten, in denen die Menschen mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. „In der Gegend um Nagpur bereiten Dürren und Wasserknappheit große Probleme“, erklärt mir Jona Aravind Dohrmann. Jona leitet unsere Reise und ist der Vorsitzende der „Deutsch-Indischen Zusammenarbeit“. Der Verein mit Hauptsitz in Frankfurt am Main bietet Jahr für Jahr mit Studienreisen verbundene Kurzprojekte an, die Workcamps, und ist der deutsche Partner von Ecumenical Sangam.
Wasser und Erosion sind in vielen Gegenden Indiens ein Thema. In den Sechzigerjahren gelang es der indischen Regierung zwar kurzfristig mit einer ehrgeizigen Landwirtschaftsreform, der sogenannten Grünen Revolution, für eine ausreichende Nahrungsversorgung zu sorgen. Der Name der Reform täuscht. Mit grüner, also ökologischer Landwirtschaft hat sie wenig zu tun: Sie brachte den indischen Bauern den massenhaften Einsatz von chemischem Dünger und Schädlingsbekämpfungsmitteln, den Anbau speziell gezüchteter, ertragreicher Sorten und mehr Maschineneinsatz im
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