Masala Highway
vieler teurer Hochzeiten bedeutet, aber auch wegen der indischen Zwei-Kind- Politik. Die Regierung wirbt mit Slogans wie „Do bachchee bas!“ – Zwei Kinder sind genug oder „We two and our two“ – Wir zwei und unsere zwei – für freiwillige Geburtenkontrolle. Damit will sie das Problem der Überbevölkerung in Griff bekommen. Nicht alle richten ihre Familienplanung auf dieses Ziel aus. Das Programm setzt – anders als in China, in der die Ein-Kind-Familie verordnet ist – auf Freiwilligkeit und Aufklärung. Doch wer einen Regierungsjob möchte, achtet besser darauf, keine zu große Kinderschar zu Hause zu haben.
Die Gründe der Abneigung gegenüber Töchtern sind von Region zu Region verschieden, und eine allgemeingültige Erklärung für alle sozialen Schichten und Religionsgruppen ist – wie so oft in Indien – nicht möglich. Doch es ist denkbar, dass ein frommer Hindu es als Problem empfindet, wenn seine Frau die zweite Tochter, aber keinen Sohn geboren hat.
„So weit muss es ja nicht kommen“, meinen da viele Schwangere und machen sich auf zum nächsten Arzt. Die moderne Schulmedizin bietet seit Jahren verschiedene Möglichkeiten, das Geschlecht von Neugeborenen zu kontrollieren. Als Ergebnis verzeichnet Indien einen besorgniserregenden Frauenmangel – auf zehn neugeborene Jungen kommen nur etwa neun Mädchen, wobei sich der Abstand zwischen den beiden Zahlen immer weiter vergrößert. In mehreren Bundesstaaten sind Ultraschalluntersuchungen zur vorgeburtlichen Geschlechtsbestimmung deshalb verboten. Zu oft werden Ungeborene abgetrieben, nur weil sie weiblich sind. Eine Abtreibung kostet etwa 100 Euro, nach Schätzungen von Nicht-Regierungsorganisationen sind bei 1 000 Eingriffen nur etwa fünf männliche Föten betroffen. Wo das Geld fehlt, kommt es vor, dass neugeborene Mädchen nach der Geburt getötet werden – eine verbotene, aber in ländlichen Gegenden von den Behörden häufig nicht verfolgte Vorgehensweise.
Dass so etwas in Indien möglich ist, ist kaum zu glauben, wenn man den Umgang von Indern mit Kindern, auch mit Mädchen, sieht. Ich habe nie indische Eltern erlebt – Menschen, die von Hunger, Krankheit und Armut verzweifelten, ausgenommen –, die ihre Kinder nicht innig liebten und sie entsprechend behandelten. Mehr Zeit für Kinder? Es scheint, als würden Inder eher auf Schlaf und Essen verzichten, als darauf, Zeit mit ihren Dreikäsehochs zu verbringen. Alte Herren mit weißem Haarkranz, die gerade noch vor einem Besucher patriarchalische Würde demonstrierten, verwandeln sich in verspielte Großväter, sobald der Enkel auftaucht – oder die Enkelin. Seit Mitte der Neunzigerjahre diskutieren die Politik und die Intellektuellen des Landes, darunter der Nobelpreisträger Amartya Sen, die Rolle der Frau und das Problem der Gleichberechtigung in Indien. Die große Lösung scheint es nicht zu geben – stattdessen sind wohl viele kleine Lösungen nötig.
Eine dieser kleinen Lösungen erlebe ich, als ich gemeinsam mit den anderen Teilnehmern des Workcamps eine der Dorfkrankenschwestern von Ecumenical Sangam begleite. „Ursprünglich ging es dem Ecumenical Sangam um die Verbesserung der medizinischen Versorgung in den Dörfern“, erzählt Jona Dohrmann. Jonas Vater war Pfarrer einer Frankfurter Gemeinde. Gemeinsam mit seiner indischen Ehefrau und deren Bruder, dem Arzt Dr. Mukerjee, begann er Anfang der Siebzigerjahre – auf Anforderung des von Dr. Mukerjee geleiteten Krankenhauses und mit Unterstützung von „Dienste in Übersee“, dem evangelischen Personaldienst 2 – Entwicklungshilfe in der Gegend um Nagpur zu leisten. Inzwischen hat Ecumenical Sangam über sechzig Angestellte, darunter die Gesundheitshelferinnen. Die meisten Mitarbeiter gehören selbst zu den Dorfbewohnern. Das schafft Nähe, und die ist auch nötig: bei den Behandlungen kleinerer Wehwehchen, wie beispielsweise der Verschreibung einer Anti-Mücken-Salbe für ein von Insekten übel zerstochenes Kleinkind, aber auch für die Arbeit der Helferinnen als medizinische Aufklärerinnen. Die Hilfsschwester hat eine große Tasche dabei. In einer Hütte versammeln sich die Frauen des Dorfes. Im Hintergrund hängt eine Wiege an einem Haken von der Decke, in der ein Säugling schläft, und außer einem Charpoy, einem Bettgestell mit einer Auflage aus stramm gespannten und ineinander verflochtenen Stoffbändern gibt es keine großen Möbel. In die Wände eingelassene Nischen ersetzen die Schränke, in einer Ecke
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