Masala Highway
wäre, würde die Wahl an einem einzigen Tag abgehalten. Der schwache Trost: Immerhin wird die Zahl der Opfer jedes Jahr etwas geringer. 1999 starben etwa 100 Menschen, 2004 gab es noch 45 und 2009 etwa 30 Tote.
Doch so tragisch diese Zahlen sind: In den meisten Gegenden Indiens verlaufen Wahlkampf und Abstimmung gewaltfrei. Versammlungen unter freiem Himmel wie die in Kerala spielen eine große Rolle. Hier stellen sich die Kandidaten dem Wahlvolk vor, und oft sieht es so aus, als sei Folklore wichtiger als das Programm einer Partei. Es geht laut zu auf politischen Versammlungen – eigens engagierte Trommelgruppen sorgen dafür, dass es niemandem peinlich sein muss, die Redner anzufeuern.
Mit Rücksicht auf die vielen Wähler, die nicht lesen können, sind Symbole wichtiger als gedruckte Parteiprogramme. So legen viele Politiker großen Wert auf Erkennungszeichen, die sie von der Masse ihrer Konkurrenten abheben sollen: Der ehemalige Filmstar M. G. Ramachandran beispielsweise, dreimaliger Ministerpräsident des Bundesstaates Tamil Nadu, pflegte eine Vorliebe für dunkle Sonnenbrillen. 1 Bei einer Wahlkampfveranstaltung in Goa, zu der ich mich von den wilden Trommelrhythmen hatte locken lassen, wäre ich fast selbst Teil der Politiksymbolik geworden. Mit einem „Aie, kommen Sie, Sir, we're international!“ und winkenden Gesten wollte mich einer der Veranstalter aufs Podium holen. Ein Weißer neben dem Kandidaten: Das sieht doch gut aus. Ich war erleichtert, dass es mir niemand übel nahm, als ich ablehnte.
Die Liebe zu den Symbolen wird auch bei der Selbstdarstellung der Parteien deutlich: Anders als bei uns sind grafische Zeichen wichtiger als die Abkürzungen der Parteinamen. Jede Partei hat ihr eigenes Zeichen – manchmal legen sich sogar einzelne Kandidaten eines zu. Ein Elefant, ein Fahrrad, eine Sonne, die hinter einem Bergzug aufgeht – die Symbole sind einfach und erinnern an die Tafeln, mit denen ABC-Schützen die Buchstaben lernen. Zu Wahlzeiten scheinen alle Hauswände voller zum Gruß erhobener rechter Hände und Lotusblüten zu sein, die die Wähler später neben den Zeichen der Mitbewerber auf den Stimmzetteln wiederfinden. Die Hand ist das traditionelle Zeichen des Nationalkongresses (INC), der die derzeitige Regierungskoalition anführt, die Lotusblüte das ihrer stärksten Gegenspielerin, der Volkspartei oder BJP.
Von einem Stimmzettel kann man eigentlich nicht mehr sprechen: Nicht einmal ein Kreuzchen muss der Wähler machen, die Wahl geschieht per Knopfdruck. Die Wahlcomputer sehen wie zu groß geratene tragbare Spielkonsolen ohne Display aus: Für jeden Kandidaten eines Wahlkreises gibt es einen Knopf, drückt man einen, zeigt eine rote Leuchte die Stimmabgabe an. Über eine Million dieser Geräte sollen bei den allgemeinen Wahlen im Einsatz sein – und auch internationale Wahlbeobachter hatten bisher nichts an dieser Form der Stimmabgabe auszusetzen. Die Wahlkommission zeigt sich übrigens über eines besonders erfreut: Die Aufgabe, ausreichend gedruckte Stimmzettel zum Wahltermin herbeizuschaffen, entfalle nun. Bevor 2004 ausschließlich Wahlmaschinen benutzt wurden, verschlang jede Wahl rund 8 000 Tonnen Papier für die Stimmzettel.
Das Ergebnis indischer Wahlen unübersichtlich zu nennen, hieße die Sache schönzureden. „Ich habe keine Ahnung, von wem wir regiert werden. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass alle Politiker am Ende ihrer Amtszeit besser dastehen als zu Beginn“, sagte mir Vimal, als ich mir von ihm die indische Parteienlandschaft erklären lassen wollte. Gut ein Dutzend Parteien stellt die Regierungskoalition, die United Progressive Alliance (UPA). Bis vor rund zwanzig Jahren war das anders: Der Nationalkongress, die Partei mit der Hand als Erkennungszeichen, die auf die „Große Seele“ 2 Mohandas Karamchand Gandhi und die Gründerväter der Republik um den ersten Premierminister Jawaharlal Nehru zurückgeht, stellte fast durchgehend die absolute Mehrheit. Indien war sozusagen eine Ein-Parteien-Demokratie. Doch mit immer neuen Skandalen und dem Beharren auf einer planwirtschaftlich geprägten Wirtschaftspolitik verlor der Nationalkongress den Ruf, für die Interessen aller Inder zu stehen. Seit 2009 verfügt der Kongress, inzwischen unter Führung der in Italien geborenen Sonia Gandhi, zwar wieder über mehr als 200 Sitze in der Lok Sabha – in der Legislaturperiode zuvor waren es noch 61 weniger. Der Regierungschef, Premierminister Manmohan Singh, musste
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