Maskenball
stellte sich hinter Ecki, um den Text lesen zu können. Tatsächlich ein Gedicht.
Herbst
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
Rainer Maria Rilke – Das Buch der Bilder
Frank ging zu seinem Schreibtisch zurück und setzte sich. »Na ja, auch nicht gerade erhellend. Ich würde deine Recherche eher unter Zufall abspeichern. Ich wüsste nicht, wie uns Rilke weiterhelfen könnte.«
»Wie mans nimmt. Ich druck uns auf jeden Fall mal den Text aus. Man kann ja nie wissen.« Ecki klickte sich weiter durch das Programm. »Viola meint, ob wir uns schon mal Gedanken über das mögliche Täterprofil gemacht haben. Ich habe ihr erzählt, dass wir nicht weiterkommen. Ihr sind direkt ein paar Merkmale eingefallen.«
»Oh, die Dame ist Profilerin. Hat sie das auf der Polizeischule gelernt? Na, dann man los. Was hat sie denn ermittelt?« Sein spöttischer Unterton war nicht zu überhören.
»Sei doch nicht gleich so stinkig. Manchmal kannst du auch eine echter Kotzbrocken sein. Du kennst sie doch gar nicht. Ist von ihr doch nur nett gemeint. Sie glaubt, dass der Täter aus dem Umfeld der Klinik kommen muss. Es muss jemand sein, der nicht auffällt, wenn er einen Rollstuhl schiebt. Jemand, der Mitte bis Ende 30 ist, und kräftig. Vielleicht ein Pfleger, oder einer der Assistenzärzte. Auf jeden Fall jemand, der nicht damit klarkommt, dass um ihn herum so viele alte Menschen leiden müssen. Unter Umständen jemand mit gehobenem Lebensstandard, alleinstehend. Hochintelligent muss er sein, sozial engagiert, in einer Kirchengemeinde, in einem Verein. Der Zustand der Leiche deutet für Viola darauf hin, dass die Tat etwas Sakrales, Heiliges für den Täter bedeutet. Eine Handlung, der er alles andere unterordnet. Toll, nicht?«
»Bestell deiner Viola einen schönen Gruß von mir und sag ihr danke für die Mühe. Aber, um ehrlich zu sein, das Ganze klingt nicht sonderlich überzeugend und bringt mich auch nicht weiter.« Frank wandte sich wieder seinen Akten zu.
»War ja nur ein nett gemeinter Versuch.«
»Eben.«
Ecki fiel etwas ein. »Bean hat sich gemeldet. Er braucht für seine Recherche in Bracht noch etwas länger. Er wühlt sich gerade durch das gesamte Notenmaterial des Vereins. Das kann noch Tage dauern. Er will Notenblatt für Notenblatt durchgehen. Er schließt nicht aus, dass sich in den Texten Hinweise auf den möglichen Täter finden.«
»Das ist doch nicht sein Ernst, oder? Pfeif den Mann zurück, sofort. Es gibt Wichtigeres zu tun, als in irgendwelchen verstaubten Notensammlungen zu wühlen. Der Typ geht echt zu weit.«
Ecki sah Frank am Bildschirm vorbei an. »Statt hier herumzustänkern, solltest du dich freuen, dass Bean so gründlich ist. Wenn wir mehr von seiner Sorte hätten, wären wir in der Vergangenheit bestimmt schneller zum Ziel gekommen. Davon bin ich überzeugt.«
»Oder wir wären längst zum Gespött der gesamten nordrheinwestfälischen, was sage ich, der ganzen bundesdeutschen Polizei geworden.« Frank schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Im Notenmaterial eines Gesangvereins steckt der entscheidende Hinweis auf den Mörder! Na, bravo.«
»Du solltest gelassener werden, Frank. Dein Yin und Yang ist ja völlig aus der Balance. Ich schlage dir vor, dass du an deiner Atmung arbeitest. Das beruhigt den gesamten geistigen Apparat. Außerdem könnte der Satz ›die Blätter fallen‹ ja auch Sängern etwas bedeuten.«
»Yin und Yang! Ich fasse es nicht. Lieber Ecki, lass besser den Tee weg. Du fantasierst ja schon im ceylonesischen Endstadium.« Frank machte sich ernsthaft Sorgen um seinen Kollegen. »Was sagt eigentlich deine Frau zu deinem Yin und Yang? Ist noch alles in Ordnung zwischen euch beiden? Oder hat Marion schon erkannt, dass du deinen Verstand mit Räucherkerzen vernebelst und deinen Kummer um deine Falten am Hintern in Grünem Tee ertränkst?«
»Und du hast deine Seele doch längst an irgend so einen Voodoo-Mann aus dem Mississippidelta verkauft, hör doch auf. Wie heißt der Song? I’m standin at a crossroad?«
Die Tür ging auf, und Horst Laumen steckte seinen Kopf ins Büro. »Hallo, guten Tag, liebe Kollegen. Darf ich einen Moment
Weitere Kostenlose Bücher