Maskenball Um Mitternacht
Mit seinem lackschwarzen Haar und den markant geschnittenen Gesichtszügen strahlte er die Verwegenheit eines geheimnisumwitterten Romanhelden aus, dem nicht wenige weibliche Ballgäste schmachtende Blicke zuwerfen würden.
Er fing ihren Blick lächelnd auf. „Freust du dich, wieder einmal tanzen zu dürfen, Callie?“
Sie erwiderte sein Lächeln. Mochten viele Menschen ihren älteren Bruder auch für reserviert und kühl halten, ihn sogar als abweisend bezeichnen, sie wusste, dass er keineswegs gefühlskalt war. Er war lediglich zurückhaltend und scheute sich, allzu schnell Sympathien zu zeigen. Und Callie hatte Verständnis für seine Haltung, da auch sie gemerkt hatte, dass sich Menschen bei ihr einschmeicheln wollten, weniger, um sich mit ihr anzufreunden, sondern wegen gesellschaftlicher und finanzieller Vorteile, die sie sich durch die Bekanntschaft mit der Schwester eines Dukes erhofften. Vermutlich hatte Sinclair noch bedeutend schlechtere Erfahrungen gemacht, denn er war bereits in jungen Jahren zu Rang und Reichtum gekommen, ohne den Schutz und die Anleitung eines älteren Verwandten zu genießen.
Ihr Vater war verstorben, als Callie fünf Jahre alt war. Ihre Mutter, eine liebenswürdige Frau, stets umgeben von einem Hauch der Trauer, der sie umwallte wie ein feiner Schleier, folgte dem geliebten Gatten neun Jahre später ins Grab. Außer der Großmutter war Sinclair Callies einziger naher Verwandter. Der um fünfzehn Jahre ältere Bruder hatte die Rolle des Vormunds übernommen und war ihr stets mehr wie ein junger verständnisvoller Vater erschienen denn wie ein älterer Bruder. Callie vermutete, er habe sich nicht zuletzt dazu bereit erklärt, zum Geburtstagsfest ihrer Großtante nach London zu reisen, um seiner kleinen Schwester damit einen Gefallen zu erweisen.
„Oh ja, ich freue mich sehr darauf“, antwortete sie. „Schließlich habe ich seit der Hochzeit von Irene und Gideon nicht mehr getanzt.“
Jeder in der Familie und im näheren Bekanntenkreis wusste, dass Lady Calandra eine unermüdliche und leidenschaftliche Tänzerin war oder es vorzog, im gestreckten Galopp querfeldein zu reiten und ausgedehnte Wanderungen zu unternehmen, statt mit einer Handarbeit vor dem Kamin zu sitzen oder Etüden auf dem Pianoforte zu üben.
„Und Weihnachten?“, fragte der Duke mit hochgezogenen Brauen.
Callie verdrehte die Augen. „Ich bitte dich! Zur Klavierbegleitung der Gesellschafterin von Großmama mit dem eigenen Bruder zu tanzen zählt wirklich nicht.“
„Zugegeben, es war ein langweiliger Winter“, räumte Rochford ein. „Bald reisen wir nach Dancy Park, versprochen.“
Callie lächelte. „Oh ja, es wäre sehr schön, Constance und Dominic bald wiederzusehen. Ihre Briefe sind geradezu überschäumend vor Glück, seit sie in anderen Umständen ist.“
„Aber Calandra, über so etwas spricht eine Dame nicht im Beisein eines Gentlemans“, tadelte die Dowager Duchess.
„Aber es ist doch nur Sinclair“, gestattete Callie sich einen Einwand und unterdrückte ein Seufzen. Sie war stets bemüht, die strikten Ansichten ihrer Großmutter über gesittetes Benehmen zu respektieren, aber nach drei Monaten ständiger Zurechtweisungen war ihr Nervenkostüm ziemlich wund gescheuert.
„Richtig“, pflichtete Rochford seiner Schwester schmunzelnd bei. „Schließlich bin ich es nur, und außerdem kennen wir ihr loses Mundwerk.“
„Lach du nur!“, tadelte seine Großmutter. „Aber eine Dame von Callies gesellschaftlichem Rang hat sich stets mit äußerster Diskretion zu benehmen, zumal sie noch unverheiratet ist. Ein wahrer Gentleman wünscht sich keine Braut, die sich nicht untadelig zu benehmen weiß.“
Rochfords Gesicht nahm den Ausdruck distanzierter Arroganz an, den Callie als seine „Aristokratenmiene“ bezeichnete. „Gibt es etwa einen Gentleman, der es wagt, Calandra als indiskret zu bezeichnen?“
„Natürlich nicht“, beeilte die Duchess sich zu versichern. „Aber eine Dame, die sich auf der Suche nach einem Gatten befindet, sollte besonders achtsam sein in allem, was sie tut oder sagt.“
„Bist du auf der Suche nach einem Gatten, Callie?“, fragte Rochford mit einem spöttischen Blick an seine Schwester gewandt. „Davon weiß ich ja gar nichts.“
„Nein, bin ich nicht“, erklärte Callie knapp.
„Natürlich bist du das“, widersprach ihre Großmutter. „Jede unverheiratete Frau ist auf der Suche nach einem Ehemann, ob sie es zugibt oder nicht. Du bist keine
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