Maskenball Um Mitternacht
Als Kind hatte Callie die um einige Jahre ältere Francesca sehr bewundert. Nachdem sie Lord Haughston geheiratet hatte und aus Redfields fortgezogen war, hatte Callie sie nur noch bei ihren seltenen Besuchen im Elternhaus gesehen. Später, nachdem Callie in die Gesellschaft eingeführt worden war, waren sie sich wieder häufiger begegnet. Und mittlerweile nahm die seit fünf Jahren verwitwete Lady Francesca eine führende Position in der vornehmen Gesellschaft ein. Ihr unfehlbarer Geschmack in Mode- und Stilfragen war berühmt, und sie zählte auch mit Anfang dreißig nach wie vor zu den schönsten Frauen Londons.
„Du stellst mich völlig in den Schatten, liebste Francesca“, erklärte Callie lachend. „Du siehst hinreißend aus. Hat Tante Odelia es etwa geschafft, dich zu überreden, das Fest zu organisieren und auch die Gäste zu empfangen?“
„Ach, meine Liebe, nicht nur das. Sie hatte plötzlich Bedenken, einen Ball zu ihren eigenen Ehren zu veranstalten. Also schob sie ihre Schwester Lady Radbourne vor – und natürlich die neue Countess of Radbourne. Ich nehme an, du kennst Irene?“ Francesca drehte sich ein wenig, um auch die Dame in ihrer Begleitung mit ins Gespräch einzubeziehen.
„Natürlich“, antwortete Callie. Die gehobene Gesellschaft Londons war überschaubar, und sie kannte Lady Irene seit einigen Jahren, wenn auch nur flüchtig. Als sie jedoch vor wenigen Monaten Gideon, Lord Radbourne, heiratete, der durch eine Seitenlinie mit Lady Calandra und dem Duke verwandt war, hatten die beiden sich angefreundet.
Irene begrüßte sie in ihrer offenen Art. „Guten Abend, Callie. Wie schön, dich zu sehen. Erzählt Francesca dir etwa, wie unverschämt ich ihre Gutmütigkeit ausgenutzt habe?“
„Du übertreibst, Irene“, wehrte Francesca bescheiden ab.
Irene lachte. Die hochgewachsene junge Frau mit goldblonden Locken war eine atemberaubende Erscheinung im wallenden weißen Gewand einer antiken griechischen Göttin. Ihre ungewöhnlich goldbraunen Augen blitzten vergnügt. Die Ehe bekam Irene ausgezeichnet, sie war schöner denn je.
„Francesca will damit eigentlich nur zum Ausdruck bringen, dass es noch schlimmer war“, erklärte Irene und warf Francesca einen dankbaren Blick zu. „Du weißt selbst, dass ich eine hoffnungslos schlechte Gastgeberin bin. Letztlich blieb die ganze Organisation und Arbeit an ihr hängen. Ihr allein ist es zu verdanken, dass alles dann doch noch gelungen ist und das Fest überhaupt stattfinden kann.“
Francesca wandte sich mit einem gewinnenden Lächeln den nächsten Gästen zu, während Callie Lord Radbourne die Hand schüttelte. Er war als Pirat erschienen, ein Kostüm, das Gideon vorzüglich kleidete, fand Callie. Mit seiner wilden dunklen Haarmähne und der kraftvollen Gestalt wirkte er ohnehin eher wie ein Seemann, der Schiffe enterte und plünderte, nicht wie ein vornehmer Gentleman. Man könnte meinen, er trage den Krummsäbel in der breiten roten Schärpe jeden Tag.
„Lady Calandra“, begrüßte Gideon sie mit einer knappen Verbeugung. „Hocherfreut.“ Über seine markanten Gesichtszüge flog ein verschmitztes Lächeln. „Wie schön, ein bekanntes Gesicht zu sehen.“
Es war allgemein bekannt, dass Gideon sich in Adelskreisen nicht sonderlich wohl fühlte. Widrige Umstände in seiner Kindheit hatten dazu geführt, dass er in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen war. Trotz allem hatte er es in späteren Jahren durch Fleiß und Tüchtigkeit zu Wohlstand gebracht. Nachdem ihm als Erwachsener sein rechtmäßiger Rang in der Aristokratie zugesprochen wurde, fiel es ihm allerdings nicht leicht, sich in der vornehmen Welt zurechtzufinden. Er war kein redseliger Mensch und zog es vor, sich von großen Gesellschaften fernzuhalten. Mit Irene hatte er eine ideale Lebensgefährtin gefunden, deren unverblümte Art und Gleichgültigkeit der Meinung anderer gegenüber seiner eigenen Lebensphilosophie sehr entgegenkam. Bei den seltenen Gelegenheiten, in denen Callie sich mit ihm unterhalten hatte, fand sie ihn ausgesprochen interessant.
„Und ich freue mich sehr, hier sein zu können“, versicherte Callie ihm. „Der Winter in Marcastle zog sich doch recht monoton in die Länge. Im Übrigen, wer dürfte es schon wagen, Tante Odelias Geburtstagsball zu ignorieren?“
„Halb England scheint der gleichen Meinung zu sein“, bestätigte Gideon mit einem Blick in das Gedränge der Ballgäste.
„Komm, meine Liebe, es ist Zeit, den Ehrengast des heutigen
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