Maskerade
beeindruckten Sascha vom ersten Abend an.
Bei einem Glas Wein auf Toms Designercouch sitzend, redeten sie zuerst nur. Über Saschas Arbeit als Architekt, über Toms Studium und auch über seine Weise, sich das Studium zu finanzieren. Es schien Sascha, als würde Tom mit nichts hinter dem Berg halten und er spürte diese Verbindung zu ihm, wie er sie noch nie zuvor bei einem fremden Menschen gefühlt hatte.
Natürlich landeten sie auch in Toms großem Bett und der Sex war für Sascha überwältigend. Er fand es damals etwas beschämend mit einem etwa zwanzig Jahre jüngeren Mann ins Bett zu steigen, den er für seine Dienste auch noch bezahlte, aber dieses Gefühl verflüchtigte sich in den ersten Wochen ihrer Treffen.
Nun besser auf den Verkehr achtend, schüttelt Sascha den Kopf.
Er weiß noch, dass er sich damals wie ein Kessel fühlte, in dem ein immenser Überdruck herrschte und der kurz vor dem Bersten stand. Es schnürt ihm heute noch die Kehle zu, wenn er an diese Zeit zurück denkt.
Die Ehejahre mit Anke, das ständige Versteckspiel, die vielen Lügen und Halbwahrheiten und nicht zuletzt seine unterdrückten Bedürfnisse hatten damals ihren Tribut gefordert und ihn regelrecht zu einem wandelnden Pulverfass gemacht.
Er war ständig schlecht gelaunt und leicht reizbar. Er hatte Schwierigkeiten sich auf seine Arbeit zu konzentrieren und damit, dem Leben noch irgendetwas Positives abzugewinnen.
Die Angst davor zu seinem Anderssein zu stehen, siegte damals nur ein weiteres Mal über die Vernunft, die ihn mahnte, sich mit seinen fünfundvierzig Jahren doch endlich zu sich selbst zu bekennen und in seinem Umfeld reinen Tisch zu machen, für klare Verhältnisse zu sorgen. Vielleicht war auch ein klein wenig Bequemlichkeit dabei, als er sich vor einem Jahr dazu entschloss, schließlich im Internet nach Erleichterung zu suchen. Hatte er sich doch mit Anke, ihrer gemeinsamen zweijährigen Tochter Pia, dem Haus am Rande der Stadt und seinem eigenen Büro eine Scheinwelt erschaffen, die so perfekt war, wie es eine Scheinwelt eben nur sein konnte.
So hatte er also Toms Bekanntschaft gemacht und im Laufe der Zeit ist Tom viel mehr für ihn geworden als ein beliebiger Student, der sich mit Dienstleistungen der besonderen Art sein Studium finanziert.
Tom ist der einzige Mensch, bei dem Sascha der sein kann, der er tatsächlich ist.
Bei ihm bedarf es keinerlei Schauspiel, keiner Lügen und Tom beschert Sascha damit ein völlig neues Lebensgefühl, das er nie mehr missen möchte und das es ihm ermöglicht, sein Leben wie bisher weiterzuführen.
*
Nachdem er geduscht hat, steht Sascha nur mit Shorts bekleidet vor dem Spiegel im Schlafzimmer und überprüft mit kritischem Blick sein Bauchfett, das sich in den letzten Jahren - von ihm unbemerkt - irgendwie dort angesammelt hat. Sofort nimmt er sich vor, zukünftig mehr Zeit für Sport einzuplanen. Er verharrt mit angehaltener Luft und eingezogenem Bauch, als er Anke von unten rufen hört:
„Wann lerne ich Tom eigentlich mal kennen?“
Geräuschvoll lässt Sascha die Luft wieder entweichen und im Spiegel erscheint augenblicklich und gnadenlos wieder sein tatsächliches Antlitz.
Toms Name aus Ankes Mund zu hören, verursacht ihm beinahe schon physische Schmerzen.
Natürlich hat er Anke von Tom erzählt. Bei der Häufigkeit und Regelmäßigkeit ihrer Treffen musste er das einfach. Und natürlich war es seine "Anke Version" von Tom, die ihr zu Ohren kam.
In dieser „Anke Version“ ist Tom der Sohn eines Kunden. Dieser Sohn ist im letzten Jahr in die Stadt gezogen und kannte hier niemanden. Da Sascha diesem Kunden, einem netten, älteren, wohlsituierten Herrn und Inhaber einer Süßwarenfabrik beruflich viel zu verdanken hat, konnte er damals dessen Bitte, seinem Sohn die Stadt zu zeigen, nicht abschlagen. So haben sich Sascha und Tom kennen gelernt und im Laufe der Zeit angefreundet. Soweit die „Anke Version“.
Manchmal erwischt sich Sascha dabei, wie er selbst der Überzeugung ist, dass sich ihr Kennenlernen genauso abgespielt hat. So sehr hat er diese Version der Geschichte schon verinnerlicht.
Nun wundert er sich, wie gelassen seine Antwort klingt, trotz seines Unbehagens:
„Du kannst ihn jederzeit kennen lernen. Es wird sich irgendwann schon ergeben“, ruft er zurück.
Schnell greift er sich ein frisches Hemd aus dem Schrank, streift es über, schlüpft in Jeans und Socken und hastet hinunter in die Diele
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