Airport-Klinik
Sie stand schon seit einiger Zeit auf der Terrasse des Flughafen-Restaurants, hatte innerlich erregt das eiserne Gitter umfaßt, blickte starr auf das Gewühl unter ihr und sah kaum die hin und her rollenden Gepäckwagen, die Follow Me-Autos und die großen Busse, die Knäuel aus eng aneinander gedrängten Reisenden zu den Flugzeugen irgendwo auf dem weiten Flugfeld brachten. Die in der Sonne glitzernden Zufahrtsstraßen endeten an der langen, breiten Startbahn, wo zum Abflug bereite Maschinen zu ihren Plätzen rollten oder auf weitere Anweisungen vom Tower warteten. Ein quirlendes, faszinierendes Leben, das jeden immer wieder in seinen Bann zieht, wenn er hier steht und den Platz überblickt, von dem aus unzählige Menschen zu weit entfernten Zielen starten.
Die Maschine dort drüben, ein Jumbo mit dem Zeichen der aufgehenden Sonne, fliegt gleich nach Japan. Und da hinten rollt eine andere Maschine mit einem springenden Känguruh am Leitwerk, fährt langsam und majestätisch zur Rollbahn und hat 26 Stunden Flug vor sich – nach Australien, um die halbe Welt. Zum Flugsteig B 15 donnert mit gedrosselten Motoren ein Jumbo aus Singapore in Richtung des herausfahrenden Laufstegs, den man »Finger« nennt. Die Welt liegt offen da, zusammengeschrumpft auf einige Stunden. Es gibt keinen einzigen Platz mehr auf dieser Erde, der nicht erreicht werden kann. Der Planet ist erobert, und hier, von diesem Platz aus, sieht man, wie aus allen Himmelsrichtungen die Welt in eine einzige große Hand paßt: Air-Port … das Tor zu allen Ländern und allen Menschen.
Es war ein warmer Tag, doch hier oben auf der Terrasse des Restaurants wehte immer ein Wind, mal schwächer, mal stärker, aber er war da, als wolle er zeigen, daß nicht nur die glitzernden, donnernden und nach Kerosin stinkenden Riesenvögel die Luft beherrschten.
Der Wind hatte auch die blonden Haare der Frau am Geländer erfaßt, hatte sie durcheinander gewirbelt, wehte die Strähnen mal über ihr Gesicht, mal nach hinten in ihren Nacken. Sie ließ es geschehen, faßte sich nicht einmal an den Kopf und band keinen Schal um ihre Haare. Sie stand da an dem eisernen Gitter, unbeweglich, als sei sie eine große Puppe. Man konnte denken, sie falle um, sobald man sie anstößt. Ein Gebilde aus Plastik, kein lebender Mensch.
Das dachte auch der Kellner Josef Hellerfas, der die Frau schon seit geraumer Zeit durch die großen Fenster beobachtete. Er hatte sie nicht ins Restaurant kommen und auf die Terrasse gehen sehen. Ganz plötzlich war sie da gewesen, stand am Geländer, starrte regungslos über das Flugfeld und ließ ihr Haar vom Wind zerzausen.
»Da stimmt was nicht!« sagte Hellerfas zu Sybille, die das Büffet betreute und vor allem die kalten Speisen, die fertigen Platten herausgab. »Die steht nun fast eine Stunde da.«
»Na und?« Sybille warf einen kurzen Blick auf die Terrasse und die regungslose Gestalt. »Wenn's ihr Spaß macht.«
»Das ist doch nicht normal.«
»Es braucht ja keiner so normal zu sein wie du«, meinte Sybille schnippisch. »Mein Gott, wenn'st keine Ruhe hast, geh raus und frage sie: Warum bewegen Sie sich nicht?«
»Genau das werde ich tun!«
»Bitte … blamier dich nur. Du spinnst ja, Jupp!«
Josef Hellerfas brachte noch ein Gulasch mit Nudeln und eine Flasche Pils zu Tisch 7, öffnete dann die Tür zur Terrasse und trat hinaus. Der Wind erfaßte ihn sofort, zerrte an seiner Jacke und ließ die Hosenbeine flattern. Umso mehr wunderte er sich, daß die Frau am Geländer so einen Sturm fast eine Stunde lang aushielt, ohne sich zu rühren.
Ungefähr fünf Schritte von ihr entfernt sprach er sie an: »Gnädige Frau, darf ich Ihnen …«
Es war, als habe die Frau einen Faustschlag in den Rücken bekommen. Sie zuckte heftig zusammen, warf sich herum und starrte Hellerfas an mit einem Blick, in dem blankes Entsetzen lag. Ein Blick war es, der Hellerfas wie ein Messer durchdrang. Ein kurzer Blick nur, ein Aufflammen der Augen … dann warf sich die Frau herum, griff wieder nach dem Geländer, stemmte sich hoch, hob die Beine und wollte sich in die Tiefe stürzen.
Im letzten Augenblick konnte Hellerfas gerade noch in ihr Kleid fassen, während sie schon jenseits des Geländers im Freien schwebte und mit weit aufgerissenen Augen auf Hellerfas' Hände zu schlagen versuchte. Dabei strampelte sie mit den Beinen und stieß sich mit ihnen immer wieder vom Gitter ab.
»Hilfe!« brüllte Hellerfas. »Hilfe! Ich kann sie nicht mehr halten!«
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