Mata Hari
eintrat, sagte sie zu mir: »In diesem Augenblick möchte ich nichts Neues lesen. Aber ich habe den brennenden Wunsch, das, was mich auf den Wegen der Kunst und der Liebe geführt, wieder zu lesen. Nichts, außer diesen beiden Gebieten, hat für mich je existiert. Wenn Sie mir einen großen Gefallen erweisen wollen, versuchen Sie, daß das Museum der Religionen Ihnen diese Bücher leiht, denn sie sind im Buchhandel schwer zu beschaffen.« Und dann sprach Sie zu mir über diese bedeutenden Bücher Indiens wie wir etwa über die neuesten Boulevardromane plaudern. »Früher,« sagte sie, »las ich am liebsten, was uns lehrte, das Leben zu lieben und die sinnlichen Genüsse mit leidenschaftlicher Begier und Erkenntnis aufzunehmen. Im
Prem Sagar
gibt es Kapitel, die alle unsere Sinne pochen machen und uns wie Opium berauschen. Ganze Gesänge dieses Riesengedichts, woraus die modernen Dichter ihre besten Einfälle sich geholt haben, kann ich auswendig. Ebenso haben die Schauspiele Kalidasas mit ihrer zarten Empfindung und die seiner Schüler mit ihrer farbigen Feinheit mir auserlesen schöne Tage beschert. Ich muß lachen, wenn ich sagen höre, in Paris wäre die szenische Kunst auf ihrem Gipfel angelangt. Oh, wenn Sie wüßten, wie unglaublich gesteigert das psychologische Raffinement und gar erst das der wirklichen Dinge in Indien ist! Jede Leidenschaft hat dort unten ihren Duft und ihre Farbe; so ist die Liebe blau, die Wonne weiß, die Zärtlichkeit rosa, der Heldenmut rot. Die Dekorationen wechseln in der Farbe und die Atmosphäre wechselt im Aroma je nachdem ein neues Gefühl im Drama vorherrschend wird. Und jede Person hält sich genau an die Sprache ihrer Kaste und Religion, und wenn sie einander nicht verstehen, vermittelt ein Dolmetsch die Reden, ganz wie im praktischen Leben. Glauben Sie ferner nicht etwa, daß diese Autoren ihre sämtlichen Abenteuer in die ewige Form der vier Akte schütten. O nein. Es gibt Stücke mit einem, zwei, drei, fünf, sieben, zwölf, zwanzig Akten, je nach der Bedeutung der Verwicklung. Und die Liebenden lieben sich, lieben sich wahrhaft auf der Szene. Und hassen sich wahrhaft. Und sie verfolgen sich tatsächlich und greifen sich tatsächlich an. An so manchen Händen habe ich Blut gesehen. Ah! Und die ritterlichen Legenden, die Geschichten der Râdschputenkrieger, die in safrangelbem Rock über dem Panzerhemd auf die Suche nach wunderbaren Abenteuern ausreiten! Und die Romane von der stolzen Brahmanentochter und dem Edelknaben! Sie verliebt sich in ihn, wird in eine Zisterne gefangen gesetzt, bleibt dort viele, viele Jahre lang, verliert nie die Hoffnung; der Tag wird kommen, wo sie entschlüpfen kann, um zum Stelldichein zu eilen; sie ist sicher, ihn an der Pforte der Pagode, wo sie sich kennenlernten, zu finden. Und kann er sie doch niemals wiedersehen, dann wird er im Tempel mit einem letzten Seufzer für sie zu sterben wissen! Es gibt nichts Dichterischeres, nichts Vornehmeres, Größeres als was uns vom alten Indien erhalten geblieben ist. Aber um mir jetzt ein Vergnügen zu bereiten, sollen Sie sich weder um die Beschaffung des
Prem Sagar
, noch des
Bakta Mal
, noch des
Singhazan Battici
, noch des
Sundara Kanda
bemühen. Ich wäre mit einem schlichteren Werk, das leichter zu finden ist, zufrieden. Versuchen Sie doch, den
Lotosbaum der goldenen Regeln
zu bekommen; nichts weiter; es ist ein kleines buddhistisches Buch, das uns lehrt alles zu verachten ...« Ich sah sie scharf an, ich wollte sie prüfen, ob ihre Züge etwa denen eines christlichen Verurteilten, der als letzten Trost um die
Nachfolge Christi
bittet, glichen. Aber nicht eine Spur davon ...
Dr. Bralez fuhr fort:
– Ich konnte das, wie sie sagte, schlichte Werk in keiner Buchhandlung auftreiben; jedoch einer meiner Kollegen am Sankt Ludwigshospital, in asiatischer Literatur sehr bewandert, lieh mir ein, man könnte sagen, buddhistisches Evangelium. Es enthielt die wichtigsten Stellen des
Salita Vistara, Buddhacarita
und des
Avadanasataka
. Bevor ich das Buch Mata Hari übergab, wollte ich darin blättern; aber ich las es schließlich ganz durch, und zwar mit dem lebhaftesten Interesse; und je mehr der Zaubertrank des Nirvana meinen Geist durchtränkte, um so klarer, schien mir, wurde das Seelengeheimnis der Tänzerin vor meinen Augen im Licht dieses ergreifenden Mystizismus. Als ich das Büchlein öffnete, las ich bald folgenden Satz: »Der junge Märtyrer, dem der Henker soeben die Augen ausgerissen hat, ruft
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