Matti & Dornröschen 01 - Das Dornröschen-Projekt
beim Lügen. Aber es schützte doch auch sie, rechtfertigte er sich.
»Und was ist sonst im Gange? Da läuft doch irgendwas.«
»Lass dich überraschen«, sagte er. »Ist ’ne witzige Geschichte.« Ob ich aus dem Schlamassel jemals wieder rauskomme?, fragte er sich.
Sie schaute ihn lange fragend an. »Du bist schon ein merkwürdiger Typ.«
»Hab ich nie bestritten.«
Sie lachte.
»Früher warst du nicht so ein Geheimnistuer. Kein Vertrauen?«
»Doch, doch. Wenn ich es dir dann erzähle, wirst du sofort verstehen, warum es nicht früher ging.«
Sie legte ihren Kopf schräg und grinste leicht. »Welch Fürsorge, hab ich echt nicht verdient.« Dann goss sie sich ein zweites Glas ein. »Du bist anders als früher.«
»Älter«, sagte er.
»Ja, ruhiger, genau, du strahlst Ruhe aus. Früher warst du ein Hektikbeutel.«
So hatte er es nicht in Erinnerung, aber natürlich, er war unruhiger gewesen, oft angespannt. Aber die Zeiten waren ja auch so damals. Wenn er zurückdachte, schien ihm alles in Bewegung gewesen zu sein. Dauernd waren sie auf Achse gewesen, Demos, Versammlungen, Flugblätter verteilen, in Kneipen diskutieren, auf der Straße diskutieren, in der Mensa diskutieren, in Seminaren diskutieren, Vorlesungen in Versammlungen umfunktionieren, vor den Bullen abhauen, sich mit den Rechten und der linken Konkurrenz prügeln, wobei Dornröschen Letzteres als testosterongespeisten Blödsinn verspottet hatte.
»Du bist auch nicht mehr dieselbe.«
Wieder legte sie den Kopf schief. Aus irgendeinem Grund fand er sie gerade besonders reizvoll. »Ich finde, mancher Verlust ist ein Gewinn.«
»Das klingt nach Mao.« Er grinste.
»Klar. Aber weißt du, wenn man Illusionen verliert, gewinnt man an Klarheit. Illusionen verstellen den Blick auf die Wirklichkeit. Und den Blick kann man gewinnen, wenn man sich nicht mehr selbst belügt.«
»Lektion Nummer eins, Sie hörten die große Philosophin …« Er fand sich albern, dumm.
Sie blickte ihn fast traurig an, jedenfalls ernst, als würde sie sich fragen, ob es sich lohne, mit ihm zu verkehren.
»Aber was ist deine Wirklichkeit?«, fragte er.
Sie lächelte. Dann trank sie einen Schluck, stocherte auf ihrem Teller, wo Reste von Huhn und Reis lagen.
Das Gespräch hatte eine seltsame Wendung genommen. Was geht in ihr vor? Wozu führt das Gespräch? Und erspar ihr deine blöden Witze, die nicht mal komisch sind. Nur peinlich.
»Die habe ich noch nicht gefunden«, antwortete sie endlich. »Vielleicht finde ich sie nie. Besser, als irgendeiner Wahnidee nachzurennen. Ich glaube, es gibt Leute, die kämen nicht damit klar, kein fest umrissenes Weltbild zu haben. Die nehmen lieber in Kauf, dass sie an ein realitätsfremdes Konstrukt glauben, als mit offenen Fragen zu leben. Ist eine Art Religionsersatz. Braucht man auf alles eine Antwort? Ich nicht.«
Sie kratzte sich an der Wange und schaute ihm in die Augen.
Sie war wirklich etwas Besonderes.
Als er längst wieder im Taxi saß, fühlte er, wie die Verzauberung nachklang. Sie war wie ein weicher Ton, den man nach einem Konzert mit sich trug, bis er verklang.
11: I Can See For Miles
Z wei Tage später. Auf der Fahrt zum Versteck waren sie fröhlich. Wie gut, dass sie die materiellen Reste ihres revolutionären Kampfes nicht im Landwehrkanal entsorgt und Lissagary ganz aufgelöst hatten. Sie bargen die Semtex-Kiste mit den Zündern, die eigentlich dem Klassenfeind den entscheidenden Schlag hatte versetzen sollen und nun schnöderem Zweck zugeführt wurde. »Besser als gar nicht«, sagte Twiggy, denn schließlich hatten sie für den tschechischen Plastiksprengstoff und die elektrischen Zünder einiges abdrücken müssen an italienische Genossen, die auf der Flucht vor den Carabinieri, Interpol und westeuropäischen Bullen und gewiss auch diversen östlichen Geheimdiensten Geld gebraucht hatten und mit Erfolg das Prinzip durchsetzten, dass bei Tauschbeziehungen unter Genossen keinesfalls die Zwangslage des einen Beteiligten ausgenutzt werden durfte, was am Ende dazu führte, dass Twiggy und Matti aus schlechtem Gewissen viel zu viel bezahlt hatten. Es hatte lange in ihnen genagt, dass sie den Semtex ebenso wenig wie die Makarows einer auch dem Preis angemessenen Bestimmung widmen konnten. Nun gewann das Waffenarsenal aus revolutionärer Zeit doch einen Sinn. Alles fügt sich, man muss nur geduldig sein.
»Es darf aber keiner verletzt werden«, sagte Matti, als sie am Nachmittag am Küchentisch saßen, die
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