Mecklenburger Winter
1 Schneewehen
Ein grauer Himmel hing über dem westlichen Mecklenburg. Dunkelgraue Wolken zogen über das hellere Grau. Schaumkronen in einem Meer aus Wolken. Der typische scharfe Ostwind tat seinem Namen alle Ehre und pfiff über die freien Felder der Agrargenossenschaft, die kahl und schneebedeckt, die Landschaft prägten.
Der Wind wirbelte den Schnee hoch, trug ihn meterweit, häufte ihn zu Schneewehen auf und wirbelte die weißen Flocken in winzigen Schneetornados herum. Der Schneefall der letzten Tage ließ alles unter der weißen Schicht verschwinden, bedeckte Bäume wie Büsche und gab der Landschaft einen einheitlich weißgrauen Anstrich.
Vierzig Zentimeter Neuschnee hatte es in der vorangegangenen Nacht gegeben. Die Schneewehen waren deutlich höher als diese vierzig Zentimeter und reichten oftmals weit in die Straßen hinein.
Beinahe schon süddeutsche Verhältnisse, dachte Kai und stemmte sich gegen den Wind. Er bezweifelte mittlerweile, dass es eine gute Idee gewesen war, auch bei diesem Wetter zu trainieren. Allerdings hing er seinem Trainingsplan ohnehin schon hinterher und wollte nicht noch weiter ins Hintertreffen geraten. Der starke Wind war im Grunde ein willkommener Trainingspartner, der die Radeinheit verschärfte.
Die Pedale traten sich schwer und er hatte Mühe das Fahrrad auf der stellenweise stark vereisten Straße zu halten. Jede heftigere Windböe stieß und schob ihn seitwärts. Mehr als einmal musste Kai alle Kraft und Konzentration aufwenden, um gegenzulenken, nur um auf der Straße zu bleiben.
Er war völlig alleine unterwegs. In diesem dünn besiedelten Teil Mecklenburgs war dies, vor allem bei solchem Wetter, nicht weiter schwer. Deshalb ließ er sich mehrfach hinreißen, den Wind herauszufordern und ihn anzubrüllen. Seine Kampfansage an die Elemente. Kai, Triathlet mit Leib und Seele, liebte diese Herausforderung, an seinen Körper, den Willen gegen Wind und Wetter und die eigene Erschöpfung. Der innere Schweinehund sah ihn natürlich lieber daheim im Warmen gemütlich vor dem Fernseher sitzen, anstatt bei minus 12 Grad einen einsamen Kampf gegen ein störrisches Fahrrad, heimtückischen Wind und die glatte Straße zu führen.
Um ein Haar hätte ihn ein Windstoß in die nächste Schneewehe gedrückt, als er einen Blick auf das Display des Pulsmessers warf. Die Anzeige bestätigte ihm, was das feine Brennen in den Waden bereits ankündigte. Das Piepsen des eingestellten Alarms hätte ich auch ausschalten können. Bei dem heulenden Wind ist es eh nicht zu hören.
Das Prickeln in den Muskeln war wohlvertraut. Kai wusste nur zu gut, was in seinem Körper vor sich ging: Laktat reicherte sich zunehmend an, verlangsamte die Muskeln und sein Körper wollte ihn zum Aufgeben zwingen. Aber nicht mit mir, dachte Kai grimmig.
Abermals stemmte er sich gegen den Sturm, hatte jedoch das Gefühl, kaum von der Stelle zu kommen. Er stellte sich in die Pedale und drückte sie mit aller Kraft nach unten, kämpfte sich Zentimeter für Zentimeter gegen den Wind, gegen diesen naturgewaltigen Widerstand und brüllte lachend seine Herausforderung: „Ist das alles, was du kannst? Da muss schon mehr kommen, um mich“, er betonte das Wort, „zum Aufgeben zu zwingen. Los, komm schon. Gib mir mehr davon!“
Kai schwankte, als die nächste Windböe ihn prompt zur Seite drängte, und lenkte abrupt dagegen, um nicht auf eine Eisfläche zu geraten. Der Sturm nahm seine Herausforderung just in diesem Moment an und schlug mit noch mehr Gewalt zu. Gnadenlos schob er Kai mitten auf die Straße, auf der gerade ein Geländewagen herankam. Das Auto bremste abrupt. Trotz des allgegenwärtig heulenden Sturmes vernahm Kai das Geräusch rechtzeitig und lenkte erschrocken in die andere Richtung.
Der Wind nutzte heimtückisch seine Chance und fegte ihn endgültig von der Straße. Eine große Schneewehe kam viel zu schnell auf ihn zu. Hastig versuchte er auszuweichen, der Wind trieb ihn jedoch höhnisch heulend direkt hinein. Das Vorderrad steckte augenblicklich fest, der Schwung trug das Hinterrad hoch und Kai wurde nach vorne katapultiert. Schützend riss er die Arme vors Gesicht, verschloss Augen und Mund, bevor er kopfüber in der Schneewehe verschwand.
Kurzfristig wurde es dunkel um ihn und sehr kalt. Gedämpft vernahm Kai Geräusche, einen erschrockenen Ruf. Er zappelte, versuchte sich zu befreien. Keine Chance, er war zu tief drin. Seine Arme sowie der Oberkörper steckten fest. Wenn es nicht so ernst
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