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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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weit verlassen da, bis auf zwei Leute. Der eine, George Smith, Handtuch über der Schulter, verrichtete seine letzte Andacht.
    Weiter unten an der Küste schritt ein anderer, kleinerer, untersetzter Mann allein durch den ruhigen Abend. Er war tief gebräunt, der kurzrasierte Kopf von der Sonne fast wie Mahagoni gefärbt, die Augen klar und glänzend wie Wasser.
    So war die Bühne an der Küste bereit, und in wenigen Minuten würden die beiden Männer sich begegnen. Und wieder einmal richtete das Schicksal die Waagschale für Schrecken und Überraschungen, Ankünfte und Abreisen. Und die ganze Zeit dachten die beiden einsam Schlendernden nicht einen Augenblick an Koinzidenz, diesen undurchschwommenen Strom, der in jeder Menschenmenge, in jeder Stadt dicht an uns vorbeifließt. Und sie grübelten auch nicht darüber nach, daß, wer es wagt, in diesen Strom hineinzutauchen, mit jeder Hand ein Wunder ergreift.
    Wie die meisten Menschen zuckten sie über solche Torheit nur die Achseln und blieben hoch am Ufer, damit das Schicksal sie nicht hineinstieße.
    Der Fremde stand allein. Als er sich umblickte, sah er sein Alleinsein, sah das Wasser der lieblichen Bucht, sah die Sonne in die späten Farben des Tages hinabgleiten, und dann bemerkte er einen kleinen hölzernen Gegenstand auf dem Sand. Es war das dünne Stäbchen einer vor langer Zeit geschmolzenen Eisportion. Lächelnd hob er es auf. Mit einem weiteren Blick, um sich seiner Einsamkeit zu vergewissern, bückte er sich noch einmal, hielt den Stock vorsichtig umfaßt und begann mit leichten Handstrichen das zu tun, was er auf der Welt am besten konnte.
    Er zeichnete unglaubliche Gestalten in den Sand.
    Er skizzierte eine Figur, ging dann weiter, zeichnete, immer noch hinunterblickend, jetzt ganz in seine Arbeit vertieft, eine zweite und dritte und danach eine vierte und eine fünfte und eine sechste.
    George Smith, der die Küste mit seinen Füßen bedruckte, schaute hierhin und dorthin und sah dann den Mann weiter vorn. Er ging näher heran und sah, daß jener tief braun gebrannte Mann sich bückte. Noch näher, und es gab keinen Zweifel mehr, was der Mann dort tat. George Smith kicherte. Natürlich, natürlich… Dieser Mann – wie alt mochte er sein? Fünfundsechzig? Siebzig? – kritzelte am Strand allein vor sich hin. Wie der Sand flog! Wie die wilden Porträts dort am Ufer hingeschleudert wurden! Wie…
    George Smith trat noch einen Schritt vor und blieb dann still stehen.
    Der Fremde zeichnete und zeichnete und schien gar nicht zu ahnen, daß irgend jemand dicht hinter ihm und der Welt seiner Zeichnungen stand. Inzwischen war er so verzaubert von seiner einsamen Schöpfung, daß er sich nicht umgedreht und seine fliegende Hand selbst dann nicht stillgestanden hätte, wenn in der Bucht Unterwasserbomben explodiert wären.
    George Smith blickte auf den Sand. Und nachdem er eine lange Weile hingeschaut hatte, begann er zu zittern.
    Denn dort am flachen Ufer waren Bilder griechischer Löwen, mediterrane Ziegen, Mädchen mit Fleisch aus Sand wie Goldpuder, Satyrn, die auf handgeschnitzten Hörnern bliesen, und tanzende Kinder, die am Strand entlang Blumen streuten, von springenden Lämmern gefolgt, Musikanten, die zum Klang ihrer Harfen und Leiern hüpften, Einhörner, die Jünglingen nachjagten, auf ferne Wiesen zu, Waldland, Tempelruinen und Vulkane. Die Hand und der hölzerne Stift dieses Mannes, der sich in Fieber und Schweißregen vorbeugte, schrieb, knüpfte und schlang eine ununterbrochene Linie am Ufer entlang, herum, herüber und hinauf, quer darüber hin, hinein, hinaus, stickte, flüsterte, verharrte und eilte dann weiter, als müßte dieses wandelnde Bacchanal zu Ende gedeihen, bevor das Meer die Sonne ausgelöscht hatte. Auf zwanzig, dreißig Metern oder mehr sprangen Nymphen, Dryaden und Sommerbrunnen in entschlungenen Hieroglyphen auf. Und der Sand nahm im schwindenden Licht die Farbe geschmolzenen Kupfers an, in das nun eine Botschaft eingemeißelt wurde, die alle Menschen aller Zeiten lesen und an der sie sich Jahre hindurch erfreuen konnten. Alles wirbelte und ruhte in seinem eigenen Wind und seiner eigenen Schwerkraft. Jetzt wurde von traubenblutnassen Füßen tanzender Winzertöchter Wein gestampft, jetzt gebaren schäumende Meere münzenschuppige Ungeheuer, während geblümte Drachen Duft auf ziehende Wolken streuten… jetzt… jetzt…
    Der Künstler hielt inne.
    George Smith zog sich zurück und blieb weiter abseits stehen.
    Der Künstler

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