Medizin für Melancholie
Staub fiel von seinen Ärmeln und seinen Hosen, wenn er sich bewegte, sprach und nickte.
»Ich konnte nicht eher durch den Menschenhaufen dringen«, sagte er und hielt seine schmutzige Mütze in den Händen. »Jetzt, auf dem Heimweg, komme ich her. Muß ich zahlen?«
»Nein, Schornsteinfeger, das brauchen Sie nicht«, sagte Camillia freundlich.
»Nur langsam…«, protestierte Mr. Wilkes.
Aber Camillia blickte ihn sanft an, und er verstummte.
»Danke, Madam.« Das Lächeln des Schornsteinfegers blitzte wie warmer Sonnenschein durch die dichter werdende Dämmerung. »Ich habe nur einen Rat.«
Er starrte Camillia an. Sie starrte ihn an.
»Ist heute Sankt-Bosco-Abend, Sir, Madam?«
»Wer weiß? Ich jedenfalls nicht, Sir«, sagte Mr. Wilkes.
»Ich glaube, es ist Sankt-Bosco-Abend, Sir. Dann ist Vollmondnacht«, sagte der Schornsteinfeger, der die Augen nicht von dem lieblichen, geplagten Mädchen abwenden konnte, bescheiden. »Darum müssen Sie Ihre Tochter draußen im Licht des aufgehenden Mondes stehenlassen.«
»Draußen unter dem Mond!« wiederholte Mr. Wilkes.
»Wird man davon nicht mondsüchtig?« fragte Jamie.
»Bitte um Vergebung, Sir.« Der Schornsteinfeger verbeugte sich. »Aber der Vollmond beruhigt alle kranken Haustiere, Menschen und die Tiere des Feldes. Im Schein des Vollmonds werden die Farben heiter, er berührt uns sanft und formt Geist und Körper neu.«
»Es könnte aber regnen…«, bemerkte die Mutter ängstlich.
»Ich schwöre Ihnen«, sagte der Schornsteinfeger rasch. »Meine Schwester litt an der gleichen Ohnmachtsschwäche. Wir setzten sie wie eine Lilie im Topf hinaus in die mondhelle Frühlingsnacht. Sie lebt heute in Sussex – die Verkörperung der wiederhergestellten Gesundheit!«
»Wiederhergestellt! Mondschein! Und das Ganze kostet uns nicht einen Groschen von den vierhundert, die wir heute eingenommen haben, Mutter, Jamie, Camillia!«
»Nein«, sagte Mrs. Wilkes, »das lasse ich nicht zu.«
»Mutter«, bat Camillia.
Sie blickte den Schornsteinfeger ernst an.
Er erwiderte den Blick aus seinem rußigen Gesicht, und sein Lächeln glich in der Dunkelheit einem Türkensäbel.
»Mutter«, sagte Camillia. »Ich fühle es. Der Mond wird mich heilen, ganz bestimmt…«
Die Mutter seufzte. »Ich habe am heutigen Tage und Abend wohl nichts zu sagen. Komm, ich will dich noch einmal küssen. So.«
Und sie ging hinauf.
Nun zog der Schornsteinfeger sich mit höflichen Verbeugungen gegen alle zurück.
»Denken Sie daran, sie darf die ganze Nacht lang nicht gestört werden bis zur Morgendämmerung. Schlafen Sie wohl, junge Dame. Träumen Sie, und träumen Sie süß. Gute Nacht.«
Ruß verlor sich im Ruß. Der Mann war fort.
Mr. Wilkes und Jamie küßten Camillia auf die Stirn.
»Vater, Jamie«, sagte sie. »Macht euch keine Sorgen.«
Sie ließen sie allein, und sie starrte dorthin, weit fort, wo sie ein Lächeln im Dunkeln zu sehen meinte, das aufleuchtete und erlosch, dann um eine Ecke bog und verschwand.
Sie wartete auf den Mondaufgang.
Nacht in London, Stimmen werden schläfriger, Türen knallen, trunkene Abschiede, Uhren schlagen. Camillia sah eine Katze wie eine Frau in ihrem Pelz vorbeihuschen, sah eine Frau wie eine Katze vorbeihuschen, beide schlau, beide wie Ägypterinnen, beide nach Gewürzen duftend. Jede Viertelstunde kam eine Stimme von oben:
»Alles in Ordnung, Kind?«
»Ja, Vater.«
»Camillia?«
»Mutter, Jamie, mir geht es gut.«
Und endlich: »Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Die letzten Lichter erloschen. London schlief.
Der Mond ging auf.
Und je höher der Mond, desto größer wurden Camillias Augen, die auf die Gassen, die Höfe, die Straßen schauten, bis schließlich, um Mitternacht, der Mond über sie hinzog und sie beleuchtete wie eine Marmorfigur auf einem alten Grab.
Etwas regte sich im Dunkeln.
Camillia spitzte die Ohren.
Eine leise Melodie glitt in die Luft hinaus.
Im Schatten des Hofes stand ein Mann.
Camillia fuhr zusammen.
Der Mann trat ins Mondlicht hervor; er trug eine Laute, auf der er leise klimperte. Ein gutgekleideter Mann mit schönem, jetzt fast feierlichem Gesicht.
»Ein Troubadour«, sagte Camillia laut.
Der Mann hielt sich den Finger auf die Lippen, kam langsam näher und stand bald neben ihrem Bett.
»Was tun Sie so spät draußen?« fragte das Mädchen, furchtlos, ohne zu wissen, warum.
»Ein Freund hat mich hergeschickt, um Sie gesund zu machen.« Er zupfte an den Saiten der Laute. Sie summten sacht. Wie
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