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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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an.
    »Sie…«
    »Einen Augenblick!« Mr. Wilkes kritzelte fieberhaft. »…magnetische Störungen… pontischen Baldrian… zum Henker! Nun, Mädchen, jetzt du. Was siehst du im Gesicht meiner Tochter? Du starrst sie an, du atmest kaum. Also?«
    »Sie…« Das fremde Mädchen suchte tief in Camillias Augen, errötete und stammelte: »Sie leidet an… an…«
    »Heraus damit!«
    »Sie… sie… oh!«
    Das Mädchen warf noch einen letzten Blick voll tiefen Mitgefühls auf Camillia und stürzte durch die Menge davon.
    »Albernes Ding!«
    »Nein, Papa«, murmelte Camillia mit weit aufgerissenen Augen. »Nicht albern. Sie sah. Sie wußte. Oh, Jamie, lauf und hol sie, laß sie reden!«
    »Nein, sie hatte nichts zu bieten! Schau dir dagegen die Liste der Zigeunerin an!«
    »Ich kenne sie, Papa.« Camillia war noch bleicher geworden und schloß die Augen.
    Irgend jemand räusperte sich.
    Da stand ein Metzger mit seiner Schürze wie ein scharlachrotes Schlachtfeld und zwirbelte seinen grimmigen Schnurrbart.
    »Ich habe Kühe mit diesem Blick gesehen«, sagte er. »Ich habe sie mit Branntwein und drei frischen Eiern kuriert. Und im Winter habe ich mich selbst mit diesem Elixier kuriert…«
    »Meine Tochter ist keine Kuh, Sir!« Mr. Wilkes warf die Feder hin. »Sie ist auch kein Metzger, und außerdem sind wir nicht im Januar! Treten Sie zurück, Sir, da warten schon andere!«
    Tatsächlich lärmte da eine große Menschenmenge, durch die anderen angelockt, und brannte darauf, ihren Lieblingstrank oder irgendeinen Ort auf dem Lande zu empfehlen, wo es weniger regnete und die Sonne öfter schien als in ganz England oder im gepriesenen Südfrankreich. Alte Männer und Frauen, vorzügliche Ärzte wie alle Alten, stießen in einem Gestrüpp von Spazierstöcken, in einer Phalanx von Krücken und Humpelstützen zusammen.
    »Zurück!« schrie Mrs. Wilkes beunruhigt. »Sie werden meine Tochter noch zerdrücken wie eine Frühlingsbeere!«
    »Stellen Sie sich hinten an!« Jamie packte die Stöcke und Krücken und warf sie über die Krüppel, die sich umdrehten, um ihre fehlenden Glieder zu suchen.
    »Vater, mir versagen die Kräfte«, keuchte Camillia.
    »Vater!« schrie Jamie. »Es gibt nur noch ein Mittel, diesem Tumult ein Ende zu machen! Fordere Geld! Laß sie zahlen, wenn sie ihre Ansicht über dieses Leiden loswerden wollen!«
    »Jamie, du bist ganz mein Sohn! Schnell, male ein Schild! Horcht, Leute! Zwei Groschen! Stellt euch in einer Reihe auf, bitte! Zwei Groschen, wenn ihr euer Sprüchlein hersagen wollt! Holt euer Geld heraus, ja! So. Sie, Sir. Sie, Madame. Und Sie, Sir. Nun meine Feder. Fangen Sie an.«
    Der Mob stürmte herein wie ein dunkles Meer.
    Camillia öffnete ein Auge und fiel wieder in Ohnmacht.
     
     
    Sonnenuntergang, die Straßen fast leer, nur noch ein paar Spaziergänger. Camillia öffnete ihre matten, zitternden Augenlider, als sie ein vertrautes Klirren hörte.
    »Dreihundertneunundneunzig, vierhundert Groschen!« Mr. Wilkes zählte das letzte Geld in einen Beutel, den sein Sohn ihm grinsend hinhielt. »Da!«
    »Davon bekomme ich eine schöne schwarze Begräbniskutsche«, sagte das bleiche Mädchen.
    »Pst! Hättet ihr gedacht, meine liebe Familie, daß so viele Leute, zweihundert im ganzen, Geld bezahlen würden, um uns ihre Meinung mitzuteilen?«
    »Ja«, sagte Mr. Wilkes. »Ehefrauen, Ehemänner, Kinder haben taube Ohren füreinander. Darum zahlen die Leute gern für jemand, der ihnen zuhört. Die Ärmsten! Jeder hat geglaubt, er allein kenne die Bräune, die Wassersucht, die Rotzkrankheit und er allein könne den Geifer vom Hautausschlag unterscheiden. So sind wir heute abend reich, und zweihundert Menschen sind zufrieden, da sie ihre prallen medizinischen Ranzen vor unserer Tür entleert haben.«
    »Ihr Götter, um den Aufruhr zu dämpfen und sie zu vertreiben, mußten wir sie ankläffen wie junge Hunde.«
    »Lies uns die Liste mit den zweihundert Heilmitteln vor«, sagte Jamie. »Welches ist nun das richtige?«
    »Mir ist es gleich«, flüsterte Camillia seufzend. »Es wird dunkel. Ich habe so viele Namen gehört, daß mir davon übel ist. Könnt ihr mich bitte hinauftragen?«
    »Ja, meine Liebe. Jamie, pack an!«
    »Bitte«, sagte eine Stimme.
    Halb gebeugt blickten die Männer auf. Da stand ein Schornsteinfeger, nicht besonders groß, keine besondere Gestalt, das Gesicht hinter einer Rußmaske, aus der wasserblaue Augen leuchteten und mit dem weißen Schlitz eines elfenbeinfarbenen Lächelns darin.

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