Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)
P rolog
Als Eleanor erwachte war es finster und still. Kein Laut war zu hören, das Schreien Elizabeths war fort und auch der unerträgliche Schmerz, der in den letzten Minuten ihres Gedächtnisses die ganze Welt überstrahlt hatte, war vollends verschwunden.
Dann kam das Licht zurück, zaghaft und sanft, wie ein Tuch, das von den Augen zurückgezogen wird und nun den Blick erneut auf eine Welt freigibt, die man für einen langen Schlaf hinter sich zurückgelassen hat.
Das Treppenhaus von Stratton Hall lag noch immer in jenem trüben Zwielicht, in dem sie es zuletzt wahrgenommen hatte. Nein, es war ein wenig anders – dunkler und irgendwie farbloser. Unheimlicher und trostloser, bar jeder Wärme, jeden Lebens und jeder guten Empfindung. Eine Welle verzweifelter Angst durchflutete Eleanor. Sie hatte das Gefühl, dass tausend unsichtbare Augen auf ihr ruhten und sie dennoch vollkommen allein auf der Welt sei. Niemand würde sie jemals rufen hören. Niemand würde sie hier finden. Das plötzliche Gefühl der Einsamkeit war so stark, dass sie kaum Luft zu holen wagte.
Mühsam erhob sie sich. Der Schmerz mochte verschwunden sein, doch die Angst lastete bleiern und schwer auf ihrer Brust, nahm ihr die Luft zum Atmen und jagte Kälteschauer durch ihre Seele. Die Mauern des Treppenhauses ragten finster und gewaltig über ihr auf, schienen auf sie einzustürzen, mächtig und furchterregend. Eleanor fühlte sich unendlich klein.
Doch dann kam das Licht. Gleißend und warm durchflutete es die Fenster des Treppenhauses. Wie eine Wolke puren Wohlgefühls legte es sich auf die breiten Treppenstufen, die dunklen Holzvertäfelungen und den mächtigen Kronleuchter des hohen Baus. Von einem Augenblick auf den anderen erstrahlte die Welt in Schönheit und Glück.
Eleanor kannte dieses Licht. Sie hatte es schon einmal gesehen. Es war dasselbe Licht, wie es auch Raphael und seine Brüder und Schwestern ausstrahlten. Jenes Licht, das sie das ‚Göttliche Feuer‘ nannten. Es konnte keinen Zweifel geben – dieses Licht auf der Treppe vor ihr war ein Tor. Ein Portal zu einem Ort, an dem jene Macht aktiv war, die dieses Feuer, dieses Licht ausstrahlte.
Eleanor erhob sich. Ganz wie von selbst begann sie sich auf das goldene Licht zuzubewegen. Ein glückseliges Lächeln breitete sich dabei auf ihrem Gesicht aus, als sie die ersten zaghaften Schritte auf die Stufen zuging, die zum Licht hinaufführten. Mit jedem Schritt stieg das wohlige Gefühl in ihr. An diesem Licht war alles richtig, alles perfekt, angenehm und wunderschön. Nicht einen einzigen Augenblick kam ihr in den Sinn, dass der Ort vor ihr sie von ihrem eigentlichen Weg abbringen könnte. Dem Weg, der sie zu Raphael bringen würde.
Fast sehnsüchtig streckte sie die Hand aus um das Licht zu berühren. Nur wenige Schritte noch, dann wäre sie da, wäre endlich angekommen. Dann wäre ihre Seele zu Hause.
Doch dann ging plötzlich alles ganz schnell. Ein Schatten schob sich vor das Licht. Die Silhouette eines Kopfes, schwarz und unbestimmt vor dem goldenen Licht im Hintergrund. Schlagartig sank die Temperatur im Treppenhaus und das Licht schien sich vor der Gestalt zurückzuziehen.
„Nein. Dieser Ort ist noch nicht für dich bestimmt“, erklang eine Stimme, welche die Wände erzittern ließ. Dann griff d er schwarze Schatten nach Eleanor und die Welt wurde erneut dunkel.
D er zehnte Kreis – Die Schuldlosen
Michael wälzte sich in seinem Bett herum. Die ersten Sonnenstrahlen durchbrachen bereits die Jalousien seines Zimmers und zogen schmalen Streifen blendenden Lichts durch das Zimmer, in denen der Staub glitzerte und tanzte.
Heute war Sonntag und er würde noch ein wenig im Bett liegen bleiben, bevor er sich dann die Treppe hinunter schleppen und in der Küche etwas zu essen besorgen würde.
Und doch – die Lethargie, die er in den vergangenen Wochen in sich gespürt hatte, würde ihn auch heute festnageln , das wusste er. Seit Eleanors Zusammenbruch schien ihm die Welt fremdartig, farblos und öde.
Es war seltsam. Raphael war verschwunden und eigentlich hätte Michael darüber froh sein müssen. Doch er sah das Leid, das durch Raphaels Verschwinden über Eleanor gekommen war. Er hatte mit ansehen müssen, wie das Mädchen, das er liebte, in den letzten Wochen mehr und mehr zerfallen war. Wie sie sich in sich selbst zurückgezogen hatte und sämtlicher Lebensmut sie verlassen hatte. Nun war sie nur noch ein Schatten ihrer selbst, ein Häufchen Elend,
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