Meereskuss
Kabelleitungen von hier bis Halifax. An der Penobscot Bay wurde die Zwangsevakuierung angeordnet.«
»Was ist mit World’s End?«, fragte Regina.
Caleb kniff den Mund zusammen. »Keine Evakuierung.«
»In einem schnellen Boot –«
»Nicht in der Dunkelheit. Nicht durch die Flutwelle. Die erste wird uns in weniger als einer Stunde treffen.«
Dylan legte den Arm um Regina. »Was ist mit Hubschraubern?«
»Nicht bei diesem Schnee. Außerdem könnten wir auf diesem Weg nur ein paar Leute von der Insel schaffen.«
»Mir sind auch nur ein paar wichtig.«
»Wartet«, sagte Lucy.
»Ich kann nicht«, erwiderte Caleb kurz angebunden. »Ich muss Hurrikan-Alarm geben. Alle müssen in höhere Lagen hinauf.«
»Ins Gemeindehaus«, sagte Regina.
Caleb nickte. »Sag’s deiner Mutter. Sie ist die Bürgermeisterin. Sie soll einen Rundruf starten. Wir brauchen Freiwillige, die die Nachricht verbreiten und den Leuten Beine machen.«
»Wir werden etwas zu essen brauchen«, überlegte Regina. »Ich belade den Catering-Van.«
»Du bist schwanger. Du belädst gar nichts«, bestimmte Dylan.
Sie tätschelte seine Wange. »Okay. Du machst das, und ich fahre.«
Lucy erhob sich. Sie spürte, wie sich Druck um sie herum aufbaute, in ihr. Die Wand aus Wasser stürzte über ihr zusammen, während Kraft hochkochte. »Dylan muss bei mir bleiben. Und Maggie auch.«
Dylans schwarze Augen funkelten auf. »Dann kannst du auch gleich den Van beladen helfen. Ich werde Regina nicht allein lassen.«
»Und Maggie geht ins Gemeindehaus«, sagte Caleb. »Wo sie in Sicherheit ist.«
Lucys Beine zitterten unter ihr. Ihr ganzes Leben war sie Auseinandersetzungen aus dem Weg gegangen. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich gefügt, um laute Stimmen und strenge Blicke zu vermeiden. Bis Sanctuary. Bis zu Conn.
»Du bist stärker, als wir alle dachten«,
hatte er gesagt.
Stark genug, um ihn zu verlassen.
Stark genug, um zu tun, was getan werden musste.
Lucy hob das Kinn und sah ihre Brüder starr an. »Ihr könnt sie nicht retten. Aber ich.«
»Ihr solltet ihr zuhören«, ließ sich Bart Hunter plötzlich vernehmen.
Lucys Herz machte einen Satz. Alle fuhren herum.
Der alte Mann stand im Flur am Fuße der Treppe, an fast derselben Stelle, an der Lucy vor einigen Wochen gestanden hatte.
»Ihr solltet ihr vertrauen«, fuhr er fort. »Das war mein Problem. Ich habe eurer Mutter nie vertraut. Ich habe ihr nicht zugehört.«
Lucys Hals schmerzte. »Danke«, flüsterte sie.
In seinen Augen flackerte etwas auf, das Kummer oder Stolz oder Reue sein konnte. »Du warst immer ein gutes Mädchen«, sagte er und schlurfte davon.
»Dad«, rief Caleb ihm nach.
Bart blieb stehen.
»Du musst dieses … Mädchen fertigmachen und ins Gemeindehaus bringen«, erklärte Caleb. »In fünf Minuten bei meinem Jeep, okay? Und bring viele Decken mit.«
Bart nickte und stieg die Treppe hinauf.
Lucy drängte die Tränen zurück. Dann sah sie, dass Margred sie beobachtete. Ihre Schwägerin verzog den Mund zu einem schwachen, anerkennenden Lächeln. »Sag uns, was wir tun sollen.«
Kleine Wellen schwappten an die Felsen unter Caer Subai und zogen sich wieder zurück. Conn sah zu, wie sie aufliefen und abebbten, aufliefen und abebbten …
Und weiter abebbten.
Er sog die Luft durch die Zähne ein. Angst nistete kalt in der Höhle, in der einmal sein Herz gewesen war. Es hatte begonnen.
»Ruf die Wächter«, befahl er ruhig.
Während Griff davonlief, um zu gehorchen, beobachtete Conn, wie sich das Wasser vom Strand zurückzog und die fragilen Lebensgemeinschaften freilegte, die am Rande des Wassers lebten: Krabben und Muscheln und glänzendes Seegras, Seepocken und Seesterne.
Und noch weiter zog sich das Wasser zurück, wurde abgezogen, angezogen von den Wogen, die sich noch immer draußen auf See auftürmten, den mächtigen Wogen aus verdrängtem Wasser, die durch das Wüten der Dämonen vor der Küste zustande kamen. Bald würden diese Wogen die seichteren Gewässer rund um die Insel erreichen; und dann würde die brüllende Flut sich brechen und über Sanctuary hereinstürzen.
Es sei denn, Conn konnte seine Wächter zusammenhalten und die See zurückdrängen.
»Ich kann das nicht ohne dich«,
hatte er zu Lucy gesagt.
Er sah düster auf das ablaufende Wasser. Er hatte keine Wahl.
Aber er hätte sie gern ein letztes Mal gesehen.
Um ihr zu sagen, dass er sie liebte. Um ihr Lebewohl zu sagen.
Die Blätter des Scheibenwischers fegten wirkungslos über
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