DHAMPIR - Blutsverrat
Prolog
Der Halbelf lag zitternd im Bett und fand keine Wärme. Seine Mutter war unten in der Küche, aber er konnte nicht zu ihr, um Trost zu suchen. Leesil setzte sich auf und schaute zu seinem Hund, der auf dem Boden lag.
Chaps silbergraues Fell glänzte im Licht einer einzelnen Kerze. Er hob den Kopf, blinzelte einmal und jaulte leise, als wollte er fragen, was los war.
In Leesils Magengrube krampfte sich etwas zusammen, und seine Hände zitterten. Ein seltsames Gefühl, für das er keinen Namen hatte, kroch durch seinen Leib. Er war ein Spion, ein Assassine, versklavter Diener des Kriegsherrn Darmouth, der nicht nur über ihn gebot, sondern auch über seine Eltern. Leesil diente seinem Herrn bedingungslos, um das Leben von Vater und Mutter zu schützen. Aber dieser Tag war anders.
Vor dreizehn Tagen hatte Darmouth Leesil beauftragt, einen alten Gelehrten namens Josiah auszuspionieren. Der Alte war freundlich zu ihm gewesen; nicht alle hätten einen Halbelfen einfach so bei sich aufgenommen. Doch Leesil hatte Josiah verraten und Darmouth einen Brief gegeben, den der Alte an seine Schwester geschrieben hatte. Es lag keine Bosheit in den geschriebenen Worten, nur Sorge um die Lage in der Provinz, aber das genügte Darmouth, um dem Gelehrten Aufwiegelung zur Last zu legen. Josiah wurde verhaftet und Leesil für seine Dienste bezahlt. Darmouth nannte es »Belohnung«.
Immer wieder sah Leesil vor dem inneren Auge Josiahs freundliches Lächeln, und er klammerte sich an der vagen Hoffnung fest, dass der alte Gelehrte irgendwie ungeschoren davonkommen würde. Vielleicht setzte sich einer von Darmouths Ministern für seine Freilassung ein.
Er strich sich mit der einen Hand übers Gesicht, schwitzte und fröstelte gleichzeitig. Er brauchte frische Luft. Alles in ihm drängte danach, aufzustehen und das Haus zu verlassen. Er griff nach dem Münzbeutel, den Darmouth ihm gegeben hatte, stand dann auf und blies die Kerze aus, bevor er auf leisen Sohlen das Zimmer seiner Eltern betrat. Sein Vater war unterwegs, seine Mutter arbeitete in der Küche, und so legte er den Münzbeutel aufs Bett.
Nur wenige Leute konnten so leise sein, dass Leesils Mutter nichts hörte, aber sie hatte es ihn gelehrt. Seine Schritte die Treppe hinunter waren so leise, dass nicht einmal sie etwas wahrnahm. Auf halbem Weg nach unten verharrte Leesil und schaute zurück. Chap war hinter ihm und bewegte sich ebenso lautlos wie er.
Leesil wäre gern durch die Hintertür am Seeufer nach draußen gegangen, aber dazu hätte er die Küche durchqueren müssen, und er wollte nicht, dass seine Mutter ihn sah und Fragen stellte. Deshalb schlüpfte er durch die vordere Tür hinaus, gefolgt von Chap.
Der Mond stand hoch am Himmel, und Leesil sah sich in der Stadt Venjètz um. Sein Blick ging die Straße, in der er mit seinen Eltern wohnte, hinauf und hinunter. Er hatte die Stadt nur dann verlassen, wenn er Aufträge für seinen Herrn ausführte oder wenn ihn Vater und Mutter mitnahmen, um ihn auszubilden. Ihr Haus stand zusammen mit anderen am Ufer des Sees, aus dessen Wassern Darmouths Burg aufragte; eine befestigte Brücke verband das vordere Portal mit dem Ufer. Leesils Blick strich über die dicken Basaltmauern der Feste, und dann stockte ihm plötzlich der Atem.
Im Licht der Feuer, die in den großen Kohlepfannen auf den Wehrtürmen der Burg brannten, sah er eine Leiche an der Mauer hängen, gehüllt in einen fleckigen cremefarbenen Umhang.
Meister Josiah.
Lord Darmouth hatte keine Zeit verloren und den alten Gelehrten gehängt.
Leesils Blick trübte sich, und fast hätten seine Knie nachgegeben, während er mühsam nach Atem rang.
Es ist meine Schuld, dachte er. Ich bin hierfür verantwortlich.
Und dann lief er los.
Leesil rannte durch die Straßen der Stadt, und es war ihm gleichgültig, wer ihn sah. Zwei Häuserblocks weiter hörte er, wie Krallen auf Pflastersteinen kratzten, und daraus schloss er, dass Chap ihm noch immer folgte. Er erreichte die Hauptstraße und lief in Richtung Stadttor, als er schließlich wieder zu Sinnen kam, hinter einem Laden verschwand und die Passanten beobachtete.
Es war spät in der Nacht, aber es rumpelten auch jetzt noch Karren über die Straße, in die Stadt hinein und aus ihr hinaus. Der Handel in Venjètz wurde nicht nur am Tag erledigt, sondern auch nachts.
Dieses Leben musste aufhören. Wenn Leesil Darmouths Befehle missachtete oder gar zu fliehen versuchte, würde der Kriegsherr seine Eltern verhaften
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