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Meereskuss

Meereskuss

Titel: Meereskuss
Autoren: Virginia Kantra
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verschneiten Straße unterwegs war?
    »Stell dir einfach vor, du trägst einen Pelzmantel«,
hatte Conn gesagt.
    Sie lächelte.
Ja.
    Doch die Erinnerung an Conn tat ihr weh. Als würde jemand seinen Finger in einen blauen Fleck bohren. Als würde Schorf abgekratzt. Mit gesenktem Kopf konzentrierte sie sich darauf, einen kalten, bloßen Fuß vor den anderen zu setzen. Die Kieselsteine stachen in ihre Fußsohlen. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Ihr war schwindelig vor Hunger, und sie zitterte erschöpft.
    Fast zu Hause.
    Sie würde sich keine Sorgen machen müssen, ihrem Vater zu begegnen. Um diese Tageszeit war er immer im Inn.
    Sie erspähte ihren rostenden Briefkasten, der ein wenig Schräglage hatte, seitdem Bart Hunter ihn eines Nachts mit dem Truck gestreift hatte. Müde und erleichtert stolperte Lucy die Zufahrt hinauf und nahm die Stufen zur Veranda. Der Schlüssel lag unter einer Hummerboje neben der Tür versteckt. Aber als sie nach dem Türknauf griff, drehte er sich mühelos in ihrer Hand.
    Panisch klopfte ihr das Herz bis zum Hals.
    Gaus Stimme hallte in ihrem Kopf wider:
»Weißt du, was ich mit ihnen mache, wenn ich dort bin? Mit deinem jämmerlichen Abklatsch von einem Vater und deinen braven, großen Brüdern und ihren Schlampen?«
    Sie zuckte zusammen und öffnete die Tür.
    Alte Gerüche, alte Erinnerungen stürmten auf sie ein, von Schimmel und Moder und alten Teppichen. Das Haus war kalt und still.
    »Dad?«, krächzte sie und räusperte sich. »Dad?«
    Schweigen.
    Mit klopfendem Herzen schloss sie die Tür hinter sich. Sie sollte nach oben gehen. Sie brauchte warme Kleider und eine heiße Dusche.
    Sie fröstelte. Sie musste Caleb anrufen.
    Sie ging durch das dunkle Haus zum Telefon in der Küche. Ein Brotlaib lag auf der Arbeitsplatte.
    O Gott, sie hatte solchen Hunger.
    Sie packte das Brot, riss die Plastikverpackung auf und steckte sich eine Scheibe in den Mund. Es schmeckte so gut. Ihr Magen verlangte nach mehr. Immer noch kauend holte sie ein Glas Erdnussbutter aus dem Schrank und begann, eine zweite Scheibe damit zu bestreichen.
    Sie würde Caleb gleich anschließend anrufen. In einer Minute. Sie aß im Stehen, wie ein Pferd. Sie biss animalisch ins Brot. Fast musste sie würgen, so gierig war sie, die Leere in ihrem Magen zu füllen. Wasser. Sie brauchte Wasser. Ihre Hand zitterte, als sie sie nach dem Wasserhahn ausstreckte.
    Sie hörte das Quietschen der Haustür, spürte einen kalten Luftzug und erstarrte mit ausgestreckter Hand.
    Sie errötete, wie eine Frau auf Diät, die nachts vor dem Kühlschrank überrascht wurde, wie ein Betrunkener, den man mit der Hand im Schnapsschrank erwischte. Wie ihr Vater. Sie atmete tief durch. »Dad?«
    Ein Poltern. Schritte aus dem Flur.
    Lucy drehte sich um, zog ihr Fell enger um sich. Ihr Herz klopfte in ihrer Brust. Sie war zu Hause. Sie musste nicht verbergen, was sie war, oder sich dessen schämen. Ihre Mutter war eine Selkie. Ihr Bruder war ein Selkie. Ihr Vater wusste das.
    »Ich bin hier! In der Küche«, rief sie.
    Weitere Schritte. Bart Hunter erschien in der Küchentür, groß, wettergegerbt und grau wie Treibholz. Schon vor Jahren war ihm alles Leben ausgetrieben und ausgeblichen worden.
    Seine Augen wurden rund, vor Schreck blieb sein Mund offen stehen.
    Lucys Lächeln zitterte. Wie ihre Knie. »Alles in Ordnung, Dad. Ich bin es, wirklich.«
    »Wovon zum Henker sprechen Sie?«, fragte er.
    Lucy versuchte, ihren trockenen Mund zu befeuchten. Schluckte. »Ich bin wieder da.«
    Hinter ihrem Vater stand ein Mädchen. Ein blondes Mädchen, mit einem Gesicht … Mit
ihrem
Gesicht.
    Lucys Herz machte einen Hopser.
O nein.
    Das Mädchen entdeckte Lucy und erstarrte. Ein Seufzer entrang sich ihr, bevor sie im Flur zusammenbrach.
    Lucy presste die Hände auf den Mund.
    Bart drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um zu sehen, wie die Kornpuppe zu Boden ging. Er fiel neben ihr auf die Knie.
    Dann sah er zu seiner Tochter auf, mit vor Kummer verzerrtem Gesicht und vorwurfsvollem, hartem Blick. »Was zur Hölle haben Sie mit ihr gemacht?«
    »Ich …«
    »Was habe Sie mit Lucy gemacht?«
    Gequält sah Lucy zu, wie er das ohnmächtige Mädchen in seine Arme zog und ihren Kopf an seine Brust legte.
    »Dad«, flüsterte sie. »Ich bin Lucy.«
    Aber er hörte gar nicht hin.
     

[home]
    19
     
    »Damit ich das richtig verstehe«, sagte Caleb mit ausdrucksloser Stimme. »Du bist nicht nur eine Selkie, du bist auch diejenige, nach der die Dämonen hier
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